20.12.2022 Rundbrief

Rundbrief zum Jahreswechsel 2022/2023

Rundbrief zum Jahresende an Überlebende, an Angehörige NS-Verfolgter und an die Freundinnen und Freunde unserer Gedenkstättenarbeit.

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde,

dieser Rückblick auf die Ereignisse und Aktivitäten der Stiftung im Jahr 2022 stammt erstmals nicht aus der Feder des langjährigen Gedenkstättenleiters und Stiftungsvorstands Prof. Dr. Detlef Garbe. Es ist mir eine große Ehre, nach seiner feierlichen Verabschiedung in den Ruhestand zum 30. Juni 2022 sein Amt zu übernehmen.

2022 mussten wir eine Zeitenwende erleben: Seit dem 24. Februar stellt uns der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine vor ungeahnte Herausforderungen: Wie reagieren wir als erinnerungskulturelle Institutionen angesichts der Katastrophe nur wenige hundert Kilometer östlich von uns? Die Folgen des Krieges wirken sich auch auf unsere Arbeit aus. Wir versuchen zu helfen, indem wir mit digitalen Vorträgen beispielsweise über die Situation von Überlebenden des KZ Neuengamme informieren und deren Angehörige unterstützen. Stipendienprogramme ermöglichen uns die Kooperation mit vier ukrainischen Kolleg*innen: Zusammen mit unseren Archivmitarbeiter*innen arbeiten sie Archivbestände mit Blick auf Osteuropa auf. Außerdem konnten wir mit einer ausgereisten Mitarbeiterin von Memorial International Moskau die Ausstellung „Mehr als Höflichkeit. Gastgeschenke aus dem Hamburger Besuchsprogramm für ehemaliger Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter“ realisieren.

Nach zwei Jahren der Pandemie konnten die Veranstaltungen zum 77. Jahrestag der Befreiung nun endlich wieder vor Ort in Neuengamme und in Neustadt an der Lübecker Bucht stattfinden. Verbände der Amicale Internationale de Neuengamme sowie Wegbegleiter*innen reisten dazu in großer Zahl an. Sehr bewegend war auch das Anbringen der Plakate im Gedenken an ehemalige Häftlinge des KZ Neuengamme am „Ort der Verbundenheit“. Über vierzig Angehörige haben sich mit ihren Erinnerungszeichen versammelt. Dankbar sind wir auch für die Besuche der Zeitzeug*innen Dita Kraus, Helga Melmed, Natan Grossmann und Marianne Wilke, mit denen wir öffentliche Gespräche durchführen durften.

Einen Einblick in die gegenwärtige Erinnerungsarbeit unter internationaler Beteiligung bildete das 8. Forum „Zukunft der Erinnerung“, das im Vorfeld der Jahrestagung der Amicale Internationale de Neuengamme am 16. und 17. November stattfand. Einen Schwerpunkt bildete die Geschichte der Häftlinge aus Frankreich und Belgien. Präsentiert wurde auch das von uns von 2021 bis 2022 durchgeführte partizipative Bildungsprojekt „Perspektiven öffnen – Geschichten teilen“ zur Erinnerung an Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg aus der Perspektive von Menschen mit ost- und mittelosteuropäischen Familiengeschichten. Überschattet waren diese Tage allerdings durch die mutwillige Beschädigung des Denkmals für die Opfer aus Meensel-Kiezegem. Der Vorfall hat uns entsetzt, aber auch darin bestärkt, die Erinnerungsarbeit mit all unseren Möglichkeiten fortzusetzen.

Die Gedenkstätte ist nach den wiederholten Schließungen in der Corona-Pandemie seit Mai 2022 wieder stärker besucht, unsere analogen Bildungsangebote können wieder vollumfänglich genutzt werden. Nun hoffen wir, auch gut durch die schwierigen Zeiten der Energiekrise und der steigenden Inflation zu kommen. Unseren zahlreichen Förder*innen und Unterstützer*innen, die uns durch die schwierige Zeit begleiten, sei hier herzlich gedankt.

Durchführen konnten wir 2022 das internationale Workcamp, dieses Jahr zum Thema „Looking Back, Around and Ahead – 40 Years of International Workcamps“. Im Bereich digitaler Gedenkarbeit haben wir ein neues Fenster geöffnet: Seit Januar 2022 ist die KZ-Gedenkstätte Neuengamme mit einem eigenen Kanal Teil der „Tiktok – Shoah Education and Commemoration Initiative“, die mit dem Shimon-Peres-Preis ausgezeichnet wurde. Folgen Sie uns gerne auch auf diesem Wege: @neuengamme.memorial. Begonnen haben wir ein digitales Projekt, bei dem sich Jugendliche in einem innovativen Format mit der Geschichte der Gedenkstätte am Bullenhuser Damm auseinandersetzen können.

Im Jahr 2022 konnten wir mehrere große Projekte zu einem guten Abschluss bringen und neue Wege beschreiten: Im September hat unsere Stiftung die Trägerschaft für den „Geschichtsort Stadthaus“ übernommen. Um diesen Ort wurde lange gekämpft. Nun bereiten wir für 2023 die Neueröffnung eines erweiterten Geschichtsorts im innerstädtischen Bereich vor, in dem neben der bereits vorhandenen Ausstellung kleinere Sonderausstellungen gezeigt werden und Veranstaltungen, pädagogische Arbeit mit Gruppen sowie Kooperationen mit zivilgesellschaftlichen Initiativen stattfinden sollen. Am 16. November hat das Multimediaprojekt „#WaswillstDutun?“ ihre Online-Ausstellung über familiengeschichtliche Zugänge zur NS-Vergangenheit und die dazugehörigen Bildungsmaterialen vorgestellt.

Am 30. Oktober wurde die Ausstellung „Der Tod ist ständig unter uns. Die Deportationen nach Riga und der Holocaust im deutsch besetzten Lettland“ im Lettischen Okkupationsmuseum in Riga eröffnet. Diese Ausstellung wird Anfang 2023 auch im Hamburger Rathaus zu sehen sein. Große Aufmerksamkeit hat die Ausstellung „Zwischen Zwangsfürsorge und KZ. Arme und unangepasste Menschen im nationalsozialistischen Hamburg“ im Hamburger Rathaus erhalten, die pandemiebedingt von Januar auf Juni/Juli verschoben worden war. Gespräche mit Nachkomm*innen sowie ein umfangreiches Themenprogramm begleiteten die Ausstellungspräsentation.

Auch mehrere Publikationsprojekte konnten wir realisieren: Zwei Kataloge dokumentieren die letztgenannten beiden Ausstellungen, in Kooperation mit einer Forschergruppe der Universität Hamburg erschien die Broschüre „Das Lagerhaus G am Dessauer Ufer“, weiterhin erschien Heft 3 der „Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung“ zum Thema „NS-Verfolgte nach der Befreiung“ sowie das Buch „Die Elektrikerin. Mein Überlebensweg als tschechische Jüdin 1933 bis 1945“ von Franci Rabinek Epstein. In der Reihe Neuengammer Kolloquien erschienen 2022 zudem drei Bände: der Sammelband „Deportationen dokumentieren und ausstellen“ zum geplanten Dokumentationszentrum Hannoverscher Bahnhof, der Sammelband „Entdeckendes Lernen. Orte der Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen“ sowie eine Doppelbiographie über Walter Filsinger, einen Aufseher, und Fritz Bringmann, einen Häftling des KZ Neuengamme, unter dem Titel „Keine Gerechtigkeit“.

Nachdem ein neuer Standort für das geplante Dokumentationszentrum denk.mal Hannoverscher Bahnhof gefunden und dessen Eröffnung auf das Jahr 2026 verschoben werden musste, haben wir das Programm der temporären „Interventionen“ am historischen Ort gestartet: Gezeigt werden konnten die Fotoausstellung „Deportiert ins Ungewisse“ zu Zielorten der nationalsozialistischen Deportationen und die Ausstellung „(Letzte) Lebenszeichen“ mit Postkarten aus Zielorten der Deportationen.

In diesem Jahr mussten wir uns leider von vielen uns nahe stehenden Überlebenden verabschieden. An die Verstorbenen möchten wir hier erinnern: Dr. Hans Gaertner, Teresa Stiland, Roger Cassagne, Erna Mayer, Margot Heumann, Kamila Sieglová, Liselotte Ivry, Pierre Vignes, Paula Schemiavitz, Aron Gross und die erst vor kurzem verstorbene Hédi Fried. Auch unsere  Weggefärt*innen Ursula Suhling, Dr. Detlev Landgrebe und Petra Vollmer vermissen wir schmerzlich.

Im Namen aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wünschen wir Ihnen allen, dass Sie gesund und wohlbehalten ins neue Jahr 2023 gehen, und dass wir einem Jahr in Frieden entgegensehen können!

Dr. Oliver von Wrochem, Vorstand der Stiftung und Leiter der KZ-Gedenkstätte Neuengamme

Hamburg, im Dezember 2022

Rundbrief zum Jahreswechsel
Circulaire de fin d’année
Year End Circular Letter
Eindejaarsnieursbrief
List na zakończenie roku
Rundbrev