23.11.2022 Bericht
Vom 16. bis 17. November 2022 fand in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme das 8. Forum „Zukunft der Erinnerung“ statt. Nachkomm*innen ehemaliger NS-Verfolgter, Mitarbeiter*innen von Gedenkstätten und erinnerungspolitisch Interessierte diskutierten über Herausforderungen, Probleme und Chancen der Erinnerungskultur in Gegenwart und Zukunft. Wie unterscheiden sich Erfahrungen über Ländergrenzen, verschiedene Verfolgungs- und familiengeschichtliche Hintergründe hinweg? Und was heißt das für Engagement und multiperspektivisches Erinnern?
Das Forum „Zukunft der Erinnerung“ begann mit dem Angebot für Angehörige, an einem Rechercheseminar mit Archivarin Franciska Henning teilzunehmen.
Im ersten Teil des öffentlichen Programms stellte Dr. Susann Lewerenz gemeinsam mit Projekteilnehmenden das Projekt „Perspektiven öffnen – Geschichten teilen“ vor, in dessen Mittelpunkt die Perspektiven von Menschen mit ost- bzw. mittelosteuropäischer Migrations- oder Familiengeschichte auf die Erinnerung an den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg steht. Die Ergebnisse sind auf einer multimedialen Online-Reportage abrufbar. Ksenja Holzmann wünschte sich mehr Räume, in denen gegenseitiger Austausch und Teilhabe an Erinnerungskultur ermöglicht werden. Jan Dohrmann betonte, dass das Projekt verdeutliche, dass die Komplexität von Perspektiven nicht an Ländergrenzen und Nationalitäten festgemacht werden können.
Die Journalistinnen Melanie Longerich und Brigitte Baetz berichteten im Gespräch mit Lennart Onken über die Recherche ihrer Familiengeschichten und ihr Podcast-Projekt „gestern ist jetzt“. Darin gehen sie der Frage nach, was die Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte mit Familien macht und welche Auswirkungen dies auf die Gesellschaft hat. Sie betonten, dass es ihnen wichtig sei, Personen miteinander ins Gespräch zu bringen und vielfältige Perspektiven abzubilden. Ihnen sei es bei der Auseinandersetzung wichtig, nicht auf der Gefühlsebene zu bleiben, sondern die Familiengeschichten auch wissenschaftlich einzuordnen. Ziel sei es auch, sich dadurch in heutigen gesellschaftlichen Diskussionen positionieren zu können.
Die am Nachmittag aufgeworfenen Gedanken spielten auch in der anschließenden Abendveranstaltung eine Rolle. Die Projektmitarbeiter*innen Natascha Höhn, Swenja Granzow-Rauwald und Thorsten Fehlberg präsentierten die Online-Ausstellung „#WaswillstDutun?“ und dazugehörige Bildungsmaterialien. Das Projekt porträtiert 21 Menschen mit ihren Familiengeschichten. Alle Personen verbindet, dass sie sich darüber Gedanken machen, welche Bedeutung ihre Familiengeschichte für ihr heutiges Denken und Handeln hat. Im Podiumsgespräch kamen zwei der Porträtierten zu Wort. Julia Gilfert ist die Enkeltochter von Walter Frick, einem Opfer der NS-„Euthanasie“-Morde. Sie erzählte, wie das Schicksal des Großvaters in ihrer Familie verschwiegen wurde und wie sie mit 21 Jahren begonnen hat, die Familiengeschichte zu recherchieren. Daniel Rebstock ist der Sohn von Herta und Carlheinz Rebstock, die als junge Erwachsene in Hamburg im kommunistischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus aktiv waren. Daniel Rebstock wurde schon in seiner Kindheit mit der Verfolgungsgeschichte der Eltern und der NS-Zeit konfrontiert. Swetlana Pomjalowa ist Jugendbildungsreferentin bei Arbeit und Leben Hamburg und hat die Entwicklung des Projekts begleitet. Sie betonte, dass der Austausch über die Geschichten bei jungen Menschen Reflexionsprozesse anstoße, zur gegenseitigen Wertschätzung von Perspektiven führe und die Entwicklung einer eigenen Haltung und Positionierung in der Gesellschaft fördere.
Am zweiten Tag berichtete die Historikerin Babette Weyns über die Entwicklung der Erinnerungskultur in Belgien. Die politische Aufarbeitung der Kollaboration und ihre Bestrafung in der Nachkriegszeit haben in Teilen der flämischen Beveölkerung zu einem negativen und stereotypen Bild des Widerstands geführt. Gleichzeitig sei Kollaboration von diesen Kreisen als Dienst am Vaterland umgedeutet und die Kollaborateure als Opfer stilisiert worden. Bis heute seien diese konflikthaften Narrative in der Gesellschaft verankert.
Im anschließenden Podiumsgespräch mit Martin Reiter wurde dieses Thema weiter vertieft. Kristof Van Mierop, Enkel von Roger Vyvey, der als Mitglied des Widerstands verhaftet und in das Außenlager Bremen-Blumenthal gebracht wurde, berichtete, dass die erinnerungskulturellen Konflikte bis heute bei Gedenkveranstaltungen spürbar seien. Freddy Duerinckx (NCPGR Meensel-Kiezegem 44) ist Sohn von Ferdinand Duerinckx, der in das Konzentrationslager Neuengamme verschleppt und ermordet wurde. Er erzählte die Geschichte der belgischen Gemeinde Meensel-Kiezegem, in der belgische Kollaborateure maßgeblich an der Ermordung und Verschleppung zahlreicher Dorfbewohner*innen beteiligt waren, und berichtete darüber, wie das Verbrechen die Gemeinde bis heute prägt. Zudem stellte er das privat initiierte Museum vor, das sich für eine kritische Erinnerungskultur einsetzt.
Im Anschluss hatten die Teilnehmer*innen die Möglichkeit, zu einem Rundgang mit Janina Heucke und Freddy Duerinckx zu den Erinnerungsorten auf dem Gelände der Gedenkstätte mit Blick auf das Gedenken an die belgischen Häftlinge. Alternativ bestand die Möglichkeit an einem Rundgang mit Dr. Christiane Heß zu den Häftlingen des KZ-Neuengamme aus Frankreich und ihren visuellen Zeugnissen teilzunehmen. Am Nachmittag gab es zudem die Gelegenheit, mit den Vertreter*innen der verschiedenen Verbände ehemaliger KZ-Häftlinge und ihrer Angehörigen an verschiedenen Ständen ins Gespräch zu kommen.
Das Forum „Zukunft der Erinnerung“ endete mit einem von Christine Eckel moderierten Gespräch mit Kindern von aus Frankreich deportierten Résistance-Kämpfern. Irma Bousquet erzählte von ihrem in Spanien geborenen Vater Manuel Regueiro. 1943 wurde er in Frankreich als Widerstandskämpfer verhaftet und in das KZ Sachsenhausen und in das Außenlager des KZ Neuengamme in Bremen-Farge deportiert. Er starb am 3. Mai 1945 in der Lübecker Bucht. Pascale Evans berichtete von ihrem Vater Pascal Valliccioni, der 1944 als Widerstandskämpfer verhaftet, in das Außenlager Wilhelmshaven des KZ Neuengamme verschleppt und im Mai 1945 bei Flensburg befreit wurde. Die beiden Töchter erzählten, wie die Verfolgungsgeschichten ihrer Väter ihr eigenes Leben prägen. In den emotionalen Erzählungen wurde erneut deutlich, dass die Vergangenheit nicht vergangen ist, sondern bis heute Einfluss auf das Leben der Familien hat.