30.11.2023 Bericht

„Geschichte in der Gegenwart“: Bericht vom 9. Forum „Zukunft der Erinnerung“

Beim jährlich stattfindenden Forum „Zukunft der Erinnerung“ tauschen sich Nachkomm*innen von NS-Verfolgten und NS-Täter*innen mit Gedenkstättenmitarbeitenden und weiteren Interessierten über Fragen der Erinnerungskultur aus.

Dieses Jahr stand die Veranstaltung mit 70 Gästen aus Spanien, Polen, Frankreich, Belgien, der Schweiz, den Niederlanden, Deutschland sowie Argentinien und Chile unter dem Motto „Geschichte in der Gegenwart“. Entsprechend stellte Susann Lewerenz in ihrer Begrüßung einen Bezug zwischen der Machtübergabe an die Nationalsozialisten vor 90 Jahren und dem zunehmenden Rechtsruck in Deutschland und anderen europäischen Ländern her und fragte nach der Bedeutung von aktuellem Engagement gegen rechts vor dem Hintergrund eigener familiärer Erfahrungen während der Zeit des Nationalsozialismus.

Am Vormittag des 15. Novembers hatten Nachkomm*innen von NS-Verfolgten die Gelegenheit, sich im Rahmen eines Schreibworkshops mit ihrer Familiengeschichte auseinanderzusetzen. Am Nachmittag erzählte Yvan Mbomo dann vom Schicksal seines Großvaters. Dieser kam aus Äquatorialguinea, kämpfte im Spanischen Bürgerkrieg auf republikanischer Seite und in Frankreich gegen die deutsche Besatzung und wurde dann in das KZ Neuengamme verschleppt. Bei Kriegsende überlebte er den Untergang des „KZ-Schiffs“ Cap Arcona in der Lübecker Bucht. Deutlich wurde, wie sich drei Generationen der Familie Mbomo auf je unterschiedliche Weise mit der bewegten Biografie ihres Vorfahren auseinandersetzen.

Nachkommenschaft und Engagement

Im folgenden Podiumsgespräch erzählten Detlef Baade, Daniel Rebstock und Norma van der Walde über ihre Väter bzw. Eltern, die bei der Machtübernahme der Nationalsozialisten alle noch recht jung gewesen waren, sich im Hamburger Widerstand betätigt hatten und deshalb bereits früh vom NS-Regime verfolgt worden waren. Alle drei Redner*innen engagieren sich heute selbst aktiv politisch. Daniel Rebstocks Ansatz besteht darin, Haltung gegen rechts zu zeigen. Norma van der Walde regte dazu an, gerade angesichts aktueller Polarisierungen der Gesellschaft den Austausch zu suchen und sich für Verständigung zu engagieren.

Abendveranstaltung im KörberHaus

Der erste Tag des Forums schloss mit einer öffentlichen Veranstaltung in Kooperation mit dem KörberHaus in Bergedorf. Auch Adriano Paßquali, Daniel Manwire und Melani Klarić engagieren sich vor dem Hintergrund ihrer unterschiedlichen Familiengeschichten gegen Diskriminierung, Rassismus und rechte Gewalt in der Gegenwart. Adriano Paßquali vermittelt Jugendlichen die Geschichte seiner Familie, die von den Nationalsozialisten als Sinti*ze verfolgt wurden, und verbindet dieses Thema mit der Auseinandersetzung mit aktuellen Formen von Diskriminierung, wobei eigene Erfahrungen aus seiner Schulzeit eine Brücke in die Gegenwart bilden. Für Daniel Manwire ist es wichtig, sich als Täternachkomme mit der eigenen Familiengeschichte während der NS-Zeit auseinanderzusetzen, um eine eigene Positionierung und Sprechfähigkeit auch angesichts aktueller Formen von Diskriminierung und rassistischer Gewalt erlangen zu können. Melani Klarić ist es vor dem Hintergrund ihrer Familiengeschichte, in der sowohl NS-Zwangsarbeit als auch „Gastarbeit“ eine Rolle spielen, ein Anliegen, in ihrer Bildungsarbeit die Vielfalt unterschiedlicher Erfahrungen und Perspektiven sicht- und hörbar zu machen.

Am Morgen des 16. Novembers widmete sich das Forum der Erinnerungskultur in Polen und ging der Frage nach, wie sich diese unter dem Einfluss der wechselnden politischen Verhältnisse verändert. Magda Wajsen und Katarzyna Piotrowska-Cholewinska beschrieben, wie sehr das gesellschaftliche Erinnern lange auf repräsentative Gedenkveranstaltungen konzentriert und ansonsten von Schweigen geprägt war, das bis in die Familien hineinreichte. So erfuhr Magda Wajsen erst nach dem Tod ihres Großvaters von seiner Haft im KZ Neuengamme. Der Großvater hatte sich lange um eine behördliche Bestätigung seiner KZ-Haft bemüht. Erst nach seinem Ableben erhielt die Familie schließlich das entsprechende Dokument. Katarzyna Piotrowska-Cholewinska hatte zwar schon als Kind Geschichten von ihrer Mutter aus dem KZ Ravensbrück gehört, konnte aber erst später die Trauer und Melancholie ihrer Verwandten mit den Geschehnissen während der NS-Zeit in Verbindung bringen. Die Beschäftigung mit diesem Thema und der Austausch mit anderen Angehörigen half ihr, mehr Verständnis für ihre Mutter und Großmutter zu entwickeln. Ihre subjektiven Erfahrungen wurden durch die Historikerin Maria Buko eingeordnet, die im Rahmen ihrer Dissertation mit mehreren Angehörigen polnischer NS-Verfolgter Interviews geführt hat.

Verbände und Initativen stellen sich vor

Anschließend stellten sich verschiedene Verbände und Initiativen vor, in denen sich Nachkomm*innen von KZ-Häftlingen organisiert haben. In diesem Jahr informierten die Amicale Internationale KZ Neuengamme (AIN) und das Young Committee der AIN, die Amicale Belge de Neuengamme, die belgische NCPGR Meensel-Kiezegem 44 sowie die Arbeitsgemeinschaft Neuengamme über ihre Arbeit im Allgemeinen und aktuelle Projekte.

Am Nachmittag ging es um künstlerische Ansätze, sich mit den Themen Täterschaft und Mitläuferschaft in der eigenen Familie auseinanderzusetzen. In ihrem Theaterstück “Opa!” bricht Ilka Vierkant das Schweigen, das sie in ihrer Familie erlebt hat, und verhandelt die Schuld ihres Großvaters. Ihrer Erfahrung nach kann der expressive Ansatz hilfreich sein, um mit Dritten ins Gespräch zu kommen. Jan und Sophia Firgau setzten das Tagebuch ihrer Urgroßmutter in einer szenografischen Ausstellung um. Ihr Anliegen ist es, die Gedankenwelt einer „Mitläuferin“ in den Mittelpunkt zu stellen, die von den Debatten um Täterschaft tendenziell überschattet wird.

Rückgabe von Effekten

Ein weiteres Panel mit einem Vortrag und einem anschließenden Gespräch befasste sich mit der Rückgabe von persönlichen Gegenständen von ehemaligen KZ-Häftlingen, sogenannten „Effekten“. Die Historikerin Anja Hasler berichtete, wie es dazu gekommen war, dass diese überhaupt aufbewahrt worden waren, und welchen Weg sie nach der Auflösung der KZs genommen hatten. Nieves Cajal Santos und Sandra Polom haben beide „Effekten“ von verstorbenen Angehörigen zurückerhalten und erzählten davon, wie sehr dies ihre persönliche wie auch die familiäre Auseinandersetzung mit ihrer jeweiligen Familiengeschichte beeinflusst hat.

Abschließend wurde die Wichtigkeit des aktiven Zuhörens und des Dialogs, innerhalb der unterschiedlichen Generationen, zwischen Personen mit unterschiedlichen familiären Hintergründen und Herkünften, aber auch die Bedeutung einer „Arbeitsteilung“ im Engagement gegen rechts, gegen Antisemitismus und Rassismus in der Gegenwart, unterstrichen.

Bericht: Regine Wölfle und Susann Lewerenz