08.07.2022 Ausstellung
Vom 10. Juni bis 3. Juli 2022 zeigte die Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte zur Erinnerung an die Opfer der NS-Verbrechen im Hamburger Rathaus die neue Wanderausstellung „Zwischen Zwangsfürsorge und KZ. Arme und unangepasste Menschen im nationalsozialistischen Hamburg“.
Ausstellung
Viele Besucher*innen waren interessiert an der Ausstellung, die bundesweit zum ersten Mal die Menschen in den Mittelpunkt stellt, die von den Nationalsozialisten als "asozial" abgestempelt und verfolgt worden waren.
Jahrzehntelang blieb diesen Menschen jede Anerkennung als Verfolgte des Nationalsozialismus verwehrt. Erst 2020 erkannte sie der Deutsche Bundestag als NS-Opfer an. Wer waren diese Frauen und Männer, Jugendlichen und Kinder? Was hatten sie erlitten? Warum blieb ihre Verfolgungsgeschichte jahrzehntelang unbeachtet?
Die Ausstellung berichtet über die vielen Hundert Hamburger*innen, die abgestempelt, entmündigt und zwangssterilisiert, in geschlossenen Anstalten weggesperrt und in Konzentrationslagern inhaftiert wurden. Sie beleuchtet, welche Rolle Fürsorge, Wohlfahrtsanstalten und Polizei dabei spielten, und verdeutlicht, in welcher Tradition die bis heute anhaltende Ausgrenzung und Entwürdigung von Menschen als "asozial" steht.
Ausstellungseröffnung
Zur Ausstellungseröffnung waren Angehörige von ehemaligen Häftlingen des KZ Neuengamme angereist, die dort von der SS mit einem schwarzen Winkel an der Häftlingskleidung als angeblich "asozial" gekennzeichnet waren. Einer von ihnen war der Schlosser Jacob Haut. Sein Enkel Raimund Haut erklärte dazu bei der Ausstellungseröffnung:
„Mein Großvater musste im KZ Neuengamme den schwarzen Winkel tragen. Damit kennzeichneten die Nazis die Menschen, die sie als „asozial“ verfolgten. Was für eine respektlose und bösartige Bezeichnung! Mein Großvater war sehr vieles: Er war ein liebevoller Vater, er war technisch und künstlerisch begabt und er war ausgesprochen mutig, als er sich den Nazis entgegengestellt hat. Was er bestimmt nicht war: asozial. Das ist kein Mensch.“
Auch die Präsidentin der Hamburgischen Bürgerschaft, Carola Veit, und der Vorstand der Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte, Prof. Dr. Detlef Garbe, sprachen bei der Eröffnung. Kuratorin Frauke Steinhäuser führte anschließend durch die Ausstellung.
Eindrücke von der Ausstellungseröffnung finden sich in unserem Instagram-Account.
Begleitprogramm
Raimund Haut berichtete auf einer Podiumsdiskussion zusammen mit seiner Cousine Paula Rotter und dem Chronisten Hans-Jakob Gehring von dem Leben seines Großvaters. Jacob Hauts Verfolgungsgeschichte blieb in der Familie jahrzehntelang ein Tabu, erst seit kurzem beginnen seine Angehörigen, über sein Leben und die schmerzhaften Nachwirkung seiner Verfolgung in ihrer Familie miteinander ins Gespräch zu kommen. Ein Mitschnitt des berührenden Podiumsgespräch ist hier einsehbar..
Die weiteren Veranstaltungen des Begleitprogramms eröffneten unterschiedliche Perspektiven auf das Thema der sozialrassistischen Verfolgung: So nahm Harald Hahn in seinem Theaterstück „Monolog mit meinem asozialen Großvater“ die Geschichte seines im KZ Buchenwald inhaftierten Großvaters Anton Knödler zum Anlass, um Kontinuitäten in der Ausgrenzung devianten Verhaltens zu thematisieren und emphatisch mehr soziale Gerechtigkeit zu fordern.
Die Hamburger Historikerin und Geschichtspädagogin Frauke Steinhäuser hat die Ausstellung entwickelt. In ihrem Vortrag schilderte sie – auch anhand einzelner Lebensgeschichten –, wie Behörden sozial ausgegrenzte Menschen in Hamburg ab 1933 immer schärfer verfolgten, wer betroffen war und welche Folgen die negative Fremdzuschreibung für die Einzelnen hatte. Einen besonderen Fokus legt sie auf die spezifischen Probleme bei der Konzeption einer Ausstellung zu dieser verdrängten und verachteten Gruppe von NS-Verfolgten.
In verschiedenen historischen Stadtrundgängen, darunter einem Rundgang über das Gelände des ehemaligen Versorgungsheims Farmsen, machten u.a. Marie Stahlfeld, Dr. Andreas Strippel und Dr. Christiane Rothmaler verschiedene Spuren der sozialrassistischen Verfolgung im heutigen Stadtbild sichtbar.
In einer virtuellen Lesung ihres Stückes "Tabu" näherte sich die österreichische Schauspielerin Karin Schmid der Juristin Dr. Käthe Petersen, die als Sammelvormund für die Hamburger Sozialbehörde an Hunderten Zwangssterilisationen, Entmündigungen und Zwangsunterbringungen mitgewirkt hatte. Eine Aufzeichnung der eindrucksvollen Lesung kann noch bis zum 4. August 2022 auf der Website der Schauspielerin angeschaut werden.
Die "Uckermarkgruppe Hamburg/Initiative für einen Gedenkort ehemaliges KZ Uckermark" berichtete in einer von Querflöte, Akkordeon und Gesang musikalisch begleiteten Lesung von den Erfahrungen der rund 1200 Mädchen und jungen Frauen, die im Jugend-KZ Uckermark inhaftiert waren. Viele von ihnen waren zuvor als "asozial" stigmatisiert worden. Aus Interviewauszüge ehemals Inhaftierter wurde eindringlich deutlich, wie kleinste Versuche selbstbestimmten Handels bereits Verhaftungen zur Folge haben konnten.
Stefan Romey, Vorstand der Hamburger Stiftung Hilfe für NS-Verfolgte und Dr. Christiane Rothmaler von der Projektgruppe für die vergessenen Opfer des NS-Regimes in Hamburg e.V. berichteten in dem Podiumsgespräch "Verachtet, verfolgt, vergessen?" von ihrer langjährigen Arbeit mit Betroffenen sozialrassistischer Verfolgung. Eindringlich beschrieben sie die Nachwirkung der NS-Verfolgung in deren Leben. So wurden Zeiten der Zwangsarbeit in Fürsorgeeinrichtungen später nicht auf die Rente angerechnet. Viele Überlebenden hatten zeitlebens keine Möglichkeit, aus der Armutsspirale herauszutreten, waren aber vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen so verängstigt, dass sie lieber auf zustehende Sozialleistungen verzichteten, als sich wieder an ein Amt zu wenden.
Die Ausstellung kann ausgeliehen werden
Die 37 Tafeln (teilweise mit Videos) umfassende Ausstellung „Zwischen Zwangsfürsorge und KZ. Arme und unangepasste Menschen im nationalsozialistischen Hamburg“ steht nunmehr als Wanderausstellung zur Ausleihe zur Verfügung. Die Ausleihe ist kostenlos, lediglich Transport- und Versicherungskosten müssen übernommen werden. Nähere Informationen erteilt Ihnen gerne Lennart Onken.