20.12.2023 Rundbrief
Rundbrief zum Jahresende an Überlebende, an Angehörige NS-Verfolgter und an die Freundinnen und Freunde unserer Gedenkstättenarbeit.
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freund*innen,
das Jahresende 2023 ist überschattet von zwei Ereignissen, die auch unsere Arbeit stark beeinflussen: In Reaktion auf die Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 befindet sich Israel im Krieg. Auch die Menschen in der Ukraine erleben nun schon den zweiten Winter im Krieg und teilweise unter Besatzung durch Russland. Unsere Solidarität und große Sorge gilt insbesondere den Überlebenden des KZ Neuengamme und ihren Angehörigen, aber auch unseren Kooperationspartner*innen in beiden Ländern.
Zugleich fordern die Zunahme des Antisemitismus und die verstärkt öffentlich artikulierten rechtsextremen und geschichtsrevisionistischen Positionen in Deutschland selbst unsere Arbeit heraus. Vor dem Hintergrund der Aufklärung über die NS-Verbrechen stellen wir uns weiter entschieden gegen jede Form von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und Verharmlosung des Nationalsozialismus in der Gegenwart.
Die Gedenkfeier zur Befreiung der Häftlinge des KZ Neuengamme am 3. Mai 2023 war ein positives Highlight des Jahres. Wir bedanken uns bei unseren Ehrengästen, den KZ-Überlebenden Dita Kraus, Livia Fränkel, Elisabeth Masur-Kischinowski, Natan Grossmann und Barbara Piotrowska, dass sie diesen Tag der Befreiung mit uns begangen haben. Weitere Veranstaltungen anlässlich des Jahrestages schlossen sich an: Bei einem Erzählcafe traten junge Erwachsene mit den Zeitzeug*innen ins Gespräch. In Neustadt erinnerten Vertreter*innen der Amicale Internationale KZ Neuengamme gemeinsam mit der Stadtöffentlichkeit an die Häftlinge, die bei den Bombardierungen der KZ-Schiffe Cap Arcona und Thielbek in der Neustädter Bucht ums Leben gekommen waren. Am Ort der Verbundenheit in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme durften wir auch Angehörige von Häftlingen des KZ Neuengamme aus der Ukraine begrüßen. Diese Begegnungsprojekte sind für die Erinnerungsarbeit unschätzbar wichtig.
Am 3. Juli konnten wir den Geschichtsort Stadthaus nach mehrmonatiger Umbauphase als neue Einrichtung unserer Stiftung wiedereröffnen. Er präsentiert sich seither mit neuen Möglichkeiten: Neben der Dauerausstellung können nun Nachkomm*innen „Erinnerungsboxen“ zum Gedenken an ihre im Stadthaus verhörten bzw. inhaftierten Familienmitglieder gestalten. In einem der Schaufenster können Hamburger Initiativen Projekte vorstellen; als erstes präsentierte die Initiative Stadthaus die langen „Kontroversen um den Erinnerungsort Stadthaus“. Pädagogische Formate, Sonderausstellungen, Lesungen, Vorträge konnten realisiert werden.
Ein Meilenstein für die regionale Erinnerungskultur bildet das „Hamburger Gedenkstättenkonzept“, das unser ehemaliger Stiftungsvorstand Prof. Dr. Detlef Garbe zusammen mit mir als seinem Nachfolger und in intensiver Abstimmung mit Hamburger Initiativen erarbeitet hat. Das Konzept enthält vielfältige Anregungen zur Stärkung der gegenwärtigen und zukünftigen Aufgaben von Gedenkstätten und der Erinnerungskultur in Hamburg und ist im September vom Hamburgischen Senat beschlossen worden.
Am denk.mal Hannoverscher Bahnhof nahm 2023 die Planung für den Neubau eines Dokumentationszentrums zu den Deportationen aus Hamburg Fahrt auf. Bereits im Januar wurde im Hamburger Rathaus die Ausstellung „der Tod ist ständig unter uns“ gezeigt, die die Deportationen nach Riga und den Holocaust in Lettland thematisierte und an dessen Eröffnung Überlebende und Kinder von Deportierten aus Hamburg teilnahmen. Ab April zeigte die Ausstellung „Warum hier?“ Ausschnitte aus der Geschichte und des Gedenkens im Lohsepark und ab September war die Ausstellung „Nicht nur ein Denkmal“ zu sehen: Angehörige berichteten von der Bedeutung des Erinnerungsortes für sie und ihre Familien.
Weitere Ausstellungen konnten gezeigt werden: Zum 90. Jahrestag der „Reichstagsbrandverordnung“ wurde die gemeinsam mit anderen Gedenkstätten in Deutschland konzipierte Wanderausstellung „Auftakt des Terrors“ zu frühen Konzentrationslagern, wie in Hamburg das KZ Fuhlsbüttel, im Museum für Hamburgische Geschichte gezeigt. Ebenfalls zum 90. Mal jährte sich am 4. September die Eröffnung des KZ Fuhlsbüttel. Daran erinnerten wir mit vielen Kooperationspartner*innen im Bezirksamt Hamburg-Nord mit einer Lesung aus Texten inhaftierter Regimegegner*innen. Anlässlich des Jahrestages der „Operation Gomorrha“ 1943 hat die Stiftung die von ihr entwickelte Sonderausstellung „Vor uns lagen nur Trümmer“, die die Erfahrungen der KZ-Häftlinge in der zerstörten Stadt in den Mittelpunkt stellt, im Mahnmal St. Nikolai gezeigt.
In Kooperation mit der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg und der Landeszentrale für Politische Bildung Hamburg begann 2023 das Projekt „HAMREA. Hamburg rechtsaußen“, das rechtsextreme Gewalt- und Aktionsformen thematisiert. Die von unserer Stiftung erarbeitete Sonderausstellung „Rechte Gewalt nach 1945“ wird am 19. Januar 2024 im Hamburger Rathaus eröffnen. Gestartet werden konnte ebenfalls ein Promotionsvorhaben zur NS-Kriegswirtschaft im Hamburger Hafen, das neue Erkenntnisse zur wirtschaftlichen Verflechtung und zur Zwangsarbeit im nationalsozialistischen Hamburg liefern soll.
Im Rahmen unserer Bildungsarbeit werden in einem partizipativen Projekt Bildungsmaterialien über den nationalsozialistischen Vernichtungskrieg und das Schicksal von NS-Verfolgten aus dem östlichen Europa erarbeitet. Im internationalen Jugend-Workcamp „Refreshing Memory“ haben junge Menschen unter anderem aus Vietnam, Mexiko und Aserbaidschan die Mahnmale in der Gedenkstätte instandgesetzt. Das ehemalige Kommandantenhaus in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme ist nun regelmäßig für Besucher*innen geöffnet. Stipendiatinnen der Stiftung, Historiker*innen aus der Ukraine und aus der Organisation Memorial International, heute Memorial Zukunft, haben dort den Projektraum „NS-Verfolgte aus dem östlichen Europa“ eingerichtet.
Zum 9. Forum „Zukunft der Erinnerung“ durften wir im November mit vielen Angehörige aus verschiedenen Ländern, darunter Spanien, Belgien, den Niederlanden, Deutschland, Frankreich und Polen, über familiengeschichtliches Erinnern in internationalen Zusammenhängen und die Bedeutung der Geschichte in der Gegenwart diskutieren.
Zwei neue Denkmäler konnten im Gedenkhain der KZ-Gedenkstätte Neuengamme eingeweiht werden - das von der spanischen Amicale initiierte Denkmal zur Erinnerung an die Opfer des Spanischen Bürgerkrieges, ‚Rotspanier‘ und Angehörige der Internationalen Brigaden, und ein Denkmal der Gemeinde Staphorst (Niederlande), das an die Razzia im August 1944 erinnert. Es war uns außerdem eine Ehre, unter anderem Delegationen aus Murat (Frankreich), Putten (Niederlande), aus Dänemark und aus Belgien bei uns begrüßen zu dürfen.
2023 verabschiedete die Stiftung langjährige verdienstvolle Kolleg*innen in den Ruhestand und fand neue Kolleg*innen auch für wichtige Leitungsfunktionen. Mit dem nun vervollständigten Team kann die Stiftung die kommenden Herausforderungen gemeinsam gestalten.
In diesem Jahr mussten wir uns leider aber auch von vielen uns nahestehenden Menschen verabschieden. An die Verstorbenen möchten wir hier erinnern, an die Überlebenden und Zeitzeug*innen Karl Pajuk, Marian Hawling, Stefania Bajer, Thérèse Boudier, Ivan Moscovich, Anna Puchajda, Roger Manceau, Nachum Rotenberg, Adrianus Anthony van Lieburg, François H.M. Raveau, Marianne Wilke, Erika Estis sowie an die wichtigen Unterstützer*innen und Weggefährt*innen unserer Gedenkstättenarbeit Heiner Schultz, Jürgen Köhler und Marko Knudsen.
Im Namen aller Mitarbeiter*innen wünsche ich Ihnen allen, dass Sie wohlbehalten ins neue Jahr 2024 gehen, und dass wir friedlicheren und sorgenfreieren Zeiten entgegensehen können!
Prof. Dr. Oliver von Wrochem, Vorstand der Stiftung und Leiter der KZ-Gedenkstätte Neuengamme
Hamburg, im Dezember 2023