23.11.2020 Konferenz
Vom 11. bis 13. November 2020 fand zum sechsten Mal das Forum „Zukunft der Erinnerung“ in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme statt, der Corona-Pandemie Tribut zollend in diesem Jahr zum ersten Mal als Videokonferenz. Angehörige von NS-Verfolgten, Gedenkstättenmitarbeiter*innen und erinnerungskulturell Engagierte diskutierten Fragen zu Medialisierung und Digitalisierung der Erinnerungskultur und tauschten sich über ihre Erfahrungen aus.
Zu Beginn der Tagung stellten Swenja Granzow-Rauwald, Thorsten Fehlberg und Natascha Höhn (alle Neuengamme) das multimediale Projekt #WaswillstDutun vor und vermittelten ihre Herangehensweise an die Erinnerungsarbeit mit Nachkomm*innen der dritten und vierten Generation. Hierbei bedienen sie sich unter anderem dialogischer Gesprächsformate und so genannter Storys auf der Online-Plattform Instagram.
Im anschließenden Gespräch ging es um die Motivation der jungen Projektteilnehmenden, sich mit ihren jeweiligen Familiengeschichten zu befassen, sowie um ihre Sichtweisen auf die Erinnerungskultur und deren Zukunft. Hierbei wurden Unterschiede deutlich, die sich aus der Herkunft aus verschiedenen Ländern ebenso ergeben wie aus voneinander stark abweichenden Familiengeschichten. Der Urgroßonkel von Santiago Gimeno (Madrid) kämpfte gegen den Franquismus und wurde später in das Außenlager Bremen-Farge des KZ Neuengamme deportiert. Der deutsche Urgroßvater von Jonas Reinhardt (Hamburg) trat schon früh in die NSDAP ein. Viviane Andereggen (Berlin) brachte mit ihrer Sozialisation als Enkelin ungarischer Schoah-Überlebender in der Schweiz eine weitere Perspektive ein. Ihr fällt etwa auf, dass der Holocaust in Deutschland viel präsenter sei als in Ungarn oder der Schweiz. (Link zum Mitschnitt )
Im zweiten Teil des Nachmittags präsentierten die ehemaligen Lehrer*innen Barbara Keimer und Gerd Kuhlke (Recklinghausen) von zeit-und-zweitzeugen.de ihre erinnerungskulturellen Anstrengungen, die 1992 mit einer Schulreise nach Auschwitz ihren Anfang nahmen. Lange Zeit konzentrierten sie sich auf die Überlebenden. Mit deren sukzessiven Ableben suchten sie jedoch auch nach anderen Möglichkeiten, um die Erinnerung an die nationalsozialistischen Massenverbrechen in den jungen Generationen wachzuhalten. Fündig wurden sie etwa im Keller ihrer Schule, wo sie einen benoteten Aufsatz aus der Kriegszeit über den Reichsarbeitsdienst entdeckten. Mit ihren Schüler*innen drehten sie daraufhin einen kurzen Film, in dem sie einen fiktiven Zeitsprung in den Klassenraum des Jahres 1942 unternahmen. Solch Reenactment wie auch die Verwendung des Begriffes „Zweitzeugen“ wurden kontrovers diskutiert. Die semantische Bezugnahme auf die Zeitzeug*innen und damit der Rückgriff auf deren moralische Autorität wurde problematisiert. Barbara Keimer und Gerd Kuhlke machten hierzu deutlich, dass sie weniger an Termini hängen, als die Motivation verfolgen, junge Menschen zu erreichen. In diesem Kontext wurde die Notwendigkeit offenkundig, sich als erinnerungskulturelle Akteur*innen immer wieder selbst zu reflektieren.
Der zweite Tag des Forums begann mit einem Panel zum erinnerungskulturellen Storytelling (Mitschnitt des Panels). Die Autorin Martine Letterie (Vorden) stellte ihr Kinderbuch „Kinder mit Stern“ vor. Das Buch richtet sich an Kinder im Alter zwischen vier und sechs Jahren, eine sehr junge Zielgruppe, die im deutschen Sprachraum bisher selten Adressat historisch-politischer Bildungsarbeit zum Nationalsozialismus gewesen ist. Martine Letterie stellte auf ihren Lesereisen denn auch fest, dass niederländische Kindern schon in jungen Jahren über Vorwissen zum Zweiten Weltkrieg und der Besatzung ihres Heimatlandes verfügen, während ein solches in Deutschland nicht im selben Maße vorhanden sei. Der deutsche Verlag, so Letterie, habe auch eine neue Illustration beauftragt: Im Unterschied zu den klaren und detaillierten Zeichnungen im niederländischen Original sind der deutschen Ausgabe Aquarelle beigefügt. Diese wirkten – darin waren sich Stimmen aus dem Publikum einig – eher wie eine kindliche Innensicht und veranschaulichten weniger konkret oder „hart“ die historischen Geschehnisse. Wie eine passende Bildsprache und Wortwahl zum eigentlich nicht darstellbaren Schrecken aussehen könnte, trieb auch den Autor und Zeichner Reinhard Kleist (Berlin) bei seiner Arbeit an der Graphic Novel „Der Boxer“ über den jüdischen Boxer und Auschwitz-Überlebenden Hertzko Haft um. Kleist konstatierte, das Medium Comic werde im deutschsprachigen Raum noch immer unterschätzt. Auch die Angehörigen Hafts, mit denen Kleist bei der Konzeption der Graphic Novel eng zusammenarbeitete, seien zunächst skeptisch gewesen, hätten sich in Anbetracht des Ergebnisses jedoch begeistert gezeigt. Aktuelle Erzählformen drücken sich auch im digitalen Storytelling aus, in dessen Möglichkeiten Iris Groschek (Neuengamme) einen Einblick gab. So etwa in die Aktion #75Befreiung, bei der rund um den 27. Januar 2020 Gedenkstätten in der Bundesrepublik zum 75. Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz gemeinsam Episoden aus den jeweiligen Konzentrationslagern in sozialen Medien verbreiteten und damit ein großes Publikum erreichten. Soziale Medien böten, so Groschek, die Möglichkeit, unterschiedliche Altersgruppen anzusprechen.
In einer weiteren Runde nutzten Angehörige ehemaliger KZ-Häftlinge die Gelegenheit, ihre Aktivitäten vorzustellen. Dabei trat erstmals in Deutschland die dieses Jahr neu gegründete spanische Verfolgten-Vereinigung „Amical de Neuengamme“ in Erscheinung. Präsidentin Balbina Rebollar (Gijón) erklärte, dass das Schicksal der von den Nationalsozialisten als „Rotspanier“ in deutsche Konzentrationslager verschleppten Menschen in Spanien jahrzehntelang dem Vergessen anheimfiel. Während der langen Jahre des Franquismus (1939 bis 1975) waren ihre Geschichten ein Tabu. Kristof Van Mierop (Dudzele) vom belgischen und Thom Klück (Utrecht) vom niederländischen Verfolgten-Verband berichteten, wie ihre „Freundeskreise“ den Herausforderungen durch die Corona-Pandemie begegnen. Die Aktivist*innen nutzen Videokonferenzen und Social-Media-Formate. Wenn möglich kommen sie aber auch zusammen, wie im Oktober bei der Feier zum 75jährigen Bestehen des belgischen Verbandes in Brüssel. Als besonders schmerzhaft erwies sich hingegen, dass die Verbände ihre geplanten Reisen mit hunderten Teilnehmer*innen zu den Gedenkveranstaltungen Anfang Mai in Neuengamme hatte absagen müssen. Beide „Freundeskreise“, wie auch der spanische und weitere Vereinigungen, beteiligten sich allerdings mit eigenen Beiträgen am „virtuellen Erinnern“ der Gedenkstätte. Inge Kroll (Augsburg), Tochter eines ehemaligen Dachau-Häftlings, brachte ihre Erfahrungen aus süddeutschen Angehörigen-Initiativen ein. So etwa der schwierige Umgang mit dem leidgeprägten Familienerbe wie auch die fehlende gesellschaftliche Anerkennung ehemals kommunistischer Häftlinge in der Bundesrepublik der Nachkriegszeit.
Vor dem Hintergrund des sich immer deutlicher abzeichnenden Endes der Zeitzeugenschaft diskutierten Anika Reichwald (Jüdischen Museum Hohenems), Kuratorin einer Ausstellung zum Thema, sowie Ulrich Baumann vom Denkmal für die ermordeten Juden Europas den Umgang mit lebensgeschichtlichen Interviews mit Schoah-Überlebenden in Gedenkstätten und Museen. Für die didaktische Aufarbeitung der Interviews sei beispielsweise wichtig, in welchem Alter die Zeitzeug*innen das Berichtete erlebt hatten, da die Wahrnehmung von Kindern sich in hohem Maße von denen älterer Menschen unterschieden. Ferner sei von Bedeutung, zu welchem Zeitpunkt ein Interview stattgefunden hat, und wann und vor welchem Hintergrund es ausgewertet wird. Reichwald und Baumann hinterfragten die Rolle der Interviewenden und plädierten für eine Re-Lektüre bereits geführter Interviews, da zu unterschiedlichen Zeitpunkten darin neue Sinnebenen zu entdecken seien.
Zum Abschluss des zweiten Tages stellte Sława Harasymowicz (London) ihren künstlerischen assoziativen und fragmentarischen Zugang zur Erinnerungskultur vor. Ausgangspunkt ihrer Arbeit ist das Schicksal ihres Großonkels Marian Górkiewicz. Der Neuengamme-Häftling kam im Mai 1945 bei der Bombardierung des KZ-Schiffes „Thielbek“ in der Lübecker Bucht ums Leben. Harasymowicz verabschiedet sich von linearem Erzählen in Farbe, Sprache und Bildern und nutzt Fragmente wie eine Satellitenaufnahme der Lübecker Bucht als Erinnerungsanker.
Am Abend folgte eine in Kooperation mit der Friedrich-Ebert-Stiftung organisierte Abendveranstaltung mit der jüdischen KZ-Überlebenden Dita Kraus (Netanya, Israel), ebenfalls online (Aufzeichnung). Mehr als 200 Zuhörende folgten der Lesung aus den Memoiren „Ein aufgeschobenes Leben“, die Dita Kaus 2020 veröffentlicht hat. Zwischendurch bot sich immer wieder die Gelegenheit, einzelne Episoden und Aspekte mit Dita Kraus und ihrem ebenfalls zugeschalteten Sohn Ron Kraus (Netanya) zu vertiefen.
Der dritte Tag des Forums „Zukunft der Erinnerung“ war dem „Ort der Verbundenheit“ gewidmet, einem neuen Erinnerungsort von Angehörigen für Angehörige auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Uta Kühl und Bernhard Esser (beide Hamburg), deren Väter die KZ-Haft in Neuengamme überlebt hatten, sowie die Studierenden Amelie von Marschalck und Anna-Sophia Unterstab der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg erklärten, dass der Ort der Verbundenheit kein statisches Denkmal, sondern ein partizipativer Erinnerungsort sein soll. Interessierte Angehörige können ein Plakat für ihre Liebsten gestalten. Die Plakate werden in einer neu geschaffenen Druckwerkstatt gedruckt und vor dem „Plattenhaus“ auf Wände geklebt, die jede*r einsehen kann. Die Druckplatten werden in Außenregalen ebenfalls der Öffentlichkeit präsentiert.
Die feierliche Eröffnung des „Ortes der Verbundenheit“ fand einerseits unter Hygieneauflagen auf dem Außengelände statt und stieß andererseits im Livestream auf großes Interesse und positives Feedback. In verschiedenen Redebeiträgen wurde allen Beteiligten gedankt wie auch an den langen Entstehungsprozesses erinnert, der 2014 während des ersten Forums „Zukunft der Erinnerung“ angestoßen wurde.
Sebastian Beer, Alexandre Froidevaux, Lennart Onken, Bastian Satthoff