11.04.2023 Nachricht
Zwanzig jüdische Kinder wurden am 20. April 1945 im Keller einer ehemaligen Schule ermordet. Jetzt kennen wir auch die Namensschreibweise und das Geburtsdatum von Sara Goldfinger.
20 jüdische Kinder wurden 1944 von ihren Familien im KZ Auschwitz getrennt und in das KZ Neuengamme deportiert. Die Kinder waren zwischen 5 und 12 Jahre alt. In Neuengamme wurden sie medizinischen Versuchen mit Tuberkulose ausgesetzt, die der Arzt Kurt Heißmeyer durchführte. Als sich die Alliierten Hamburg näherten, wurden die Kinder als Zeugen dieses Verbrechens im Keller einer ehemaligen Schule am Bullenhuser Damm von SS-Männern ermordet.
Doch es gelang der SS nicht, dieses Verbrechen vollständig zu vertuschen. Ehemalige Häftlinge der Konzentrationslager Auschwitz und Neuengamme bezeugten nach Kriegsende, was sie von diesem Verbrechen mitbekommen hatten und konnten Namen der Kinder angeben.
Eine wichtige Rolle spielte dabei ein handschriftlicher Zettel von Rose Grumelin, die damals noch Rucza Witońska hieß. Sie ist die Mutter von zwei der am Bullenhuser Damm ermordeten Kindern und war mit ihnen zusammen ins KZ Auschwitz verschleppt worden. Nach ihrer Befreiung notierte sie Namen der Kinder, die dort zusammen mit ihrer Tochter Eleonora und ihrem Sohn Roman weggeführt worden waren.
Einer der elf von ihr notierten Namen lautete Surcis (oder Surcia) Goldfinger. Dazu gab sie die Häftlingsnummer „A 16918“ des KZ Auschwitz an. Häftlinge des KZ Neuengamme erinnerten sich an ein Mädchen mit dem Nachnamen „Goldinger“. Aus der Häftlingsnummer lässt sich ersehen, dass das Mädchen aus Ostrowiec bei Radom in Polen in das KZ Auschwitz deportiert wurde.
Ende der 1970er begab sich der Journalist Günther Schwarberg auf die Suche nach den Familien der ermordeten Kinder. Ihm gelang es, den meisten der Kinder Namen zuzuordnen und von mehreren der Kinder Angehörige ausfindig zu machen, die den Holocaust überlebt hatten.
Von dem als „Surcis Goldinger“ aus Ostrowiec identifizierten Mädchen konnten allerdings bisher keine Angehörigen ermittelt werden.
Der italienischen Autorin Maria Pia Bernicchia und der Historikerin Alberta Bezzan von der Fondazione Centro di Documentazione Ebraica Contemporanea (CDEC) in Mailand fiel der ungewöhnliche Vorname „Surcis“ auf. Dieser Name ist weder im Polnischen, noch im Jiddischen oder Hebräischen gebräuchlich, während „Surcia“ ein Kosename für „Sara“ ist. Und tatsächlich: In der Internationalen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem fanden sie auf einer Liste ermordeter Juden aus Ostrowiec den Namen „Sara Goldfinger“. Die Liste hatte ihr Onkel Chaim Eliezer Yehuda Goldfinger 1972 erstellt. Die Namen ihrer Eltern sind in dieser Liste mit Yitzhak und Hadasa Goldfinger angegeben. Ein weiterer Hinweis auf Sara Goldfinger ist ein Gedenkblatt in Yad Vashem, erstellt 2010 von Isser Gerber. Der Holocaust-Überlebende aus Ostrowiec wollte die Erinnerung an möglichst viele ermordete Mitglieder seiner Gemeinde wachhalten. Leider ist er inzwischen verstorben.
Konnte Sara Goldfinger das Mädchen sein, das in den Notizen von Dr. Heißmeyer über seine Forschungen nur als „S.G., 11 Jahre“ bezeichnet wird?
Alberta Bezzan reiste ins polnische Ostrowiec und ermittelte dort Saras Geburtsurkunde. So fand sie heraus, dass Sara Goldfinger dort am 20. September 1933 als Tochter von Icek Goldfinger und Hudesa Goldfinger, geborene Mincberg, geboren wurde.
Sie war also 1944, als Dr. Heißmeyer im KZ Neuengamme Tuberkuloseversuche an den Kindern durchführte, tatsächlich 11 Jahre alt. Ist Sara Goldfinger damit nun zweifelsfrei als das Kind identifiziert, das bisher als „Surcis Goldinger“ bekannt war?
Die KZ-Gedenkstätte Neuengamme hat im Archiv in Ostrowiec nachgefragt, ob dort noch weitere Kinder mit dem Nachnamen Goldfinger oder Goldinger bekannt sind, deren Vorname mit einem „S“ beginnt. Dies ist nicht der Fall. Daher gehen wir nun davon aus, dass Sara Goldfinger das Mädchen ist, das die SS am 20. April 1945 in der Schule am Bullenhuser Damm ermordet hat.
Was wissen wir noch über Sara Goldfinger?
Sie wurde am 20. September 1933 in Ostrowiec in der Aleja 3 Maja, der Allee des 3. Mai, Hausnummer 3, geboren. Am 3. August 1944 wurde sie aus einem Zwangsarbeitslager in Ostrowiec mit 305 Frauen und Kindern in das KZ Auschwitz eingeliefert. Sie überstand die Selektion und erhielt die Häftlingsnummer A16918. Ihre Eltern Icek (Yitzhak) und Hudes(s)a Goldfinger starben ebenso wie ihre nach der Großmutter benannte Schwester Chava in den deutschen Vernichtungslagern. Auch ihre Großeltern Yaakov und Chava und ihre Onkel Shmuel, Menakhem, Tzvi und Leib überlebten den Holocaust nicht. Sie war eines der 20 jüdischen Kinder, die am 28. November 1944 in das KZ Neuengamme gebracht und am 20. April 1945 am Bullenhuser Damm ermordet wurden.
Mehr ist über Sara Goldfinger derzeit noch nicht bekannt.
Die Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte und die Vereinigung Kinder vom Bullenhuser Damm danken der Initiative aus Italien, namentlich Alberta Bezzan und Maria Pia Bernicchia sehr für ihre mühevolle Recherchearbeit. Sie zeigt, dass die Geschichte nicht beendet ist, und neue Recherchen neue Informationen zu Tage bringen. Wir hoffen, noch mehr von der Familie Goldfinger in Erfahrung bringen zu können.