19.10.2022 Bericht
Am 1. und 2. Juli 2022 fand in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme ein Workshop statt, auf dem pädagogische Arbeit mit Kindern an Gedenkstätten diskutiert wurde.
Schon während des von Dr. Susann Lewerenz (Bereich Erwachsenenbildung in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme) einleitend moderierten Wissens- und Erfahrungsaustauschs wurde deutlich, dass es weniger um die Frage gehen würde, ob pädagogisches Arbeiten mit Kindern an Gedenkstätten notwendig sei, sondern vielmehr darum, wie Formate für diese Zielgruppe sinnvoll gestaltet werden können.
Die Notwendigkeit, so war sich der Großteil der Anwesenden einig, ergebe sich aus den Fakten: Kinder besuchten Gedenkstätten trotz des nicht für sie konzipierten Angebots, teils mit ihren Familien, teils eigenständig und unbegleitet. Sie seien gezielt (bspw. durch die Schule) und ungezielt (bspw. durch Medien) umgeben von Eindrücken zur NS-Geschichte, würden dazu Fragen stellen und hätten ein fragmentarisches, teils krudes und oftmals von Hitlerzentrismus oder auch von der Gleichsetzung „Opfer = Juden“ geprägtes Wissen über den Nationalsozialismus. Dies sei erstens Abbild dominanter gesellschaftlicher Narrative und liege zudem daran, dass mit Kindern nicht professionell über die Thematik gesprochen werde. Gedenkstätten sollten hierauf reagieren und Angebote schaffen.
Die Historikerin Sandra Wachtel und die Pädagogin Karin Heddinga, beide langjährig in der Gedenkstättenpädagogik der KZ-Gedenkstätte Neuengamme tätig, stellten ihr Konzept einer Familienführung vor, die mit den Gegebenheiten vor Ort arbeitet und als offenes Angebot konzipiert ist. Sie wird von einem gedenkstättenpädagogischen Tandem angeboten und formuliert die Inhalte einmal kindgerecht in einer dialogischen Kinder-Führung und parallel für Begleitpersonen über 12 Jahre entsprechend in einer Erwachsenen-Führung. Die Referentinnen wiesen darauf hin, dass die KZ-Gedenkstätte Neuengamme bereits mit sechsten Klassen arbeite und sich die positive Wirkung einer ersten Auseinandersetzung mit dem Thema im jüngeren Alter bei einem zweiten Besuch der Klassen im 10. Jahrgang gezeigt habe. In diesem Zusammenhang betonten sie, dass Kinder im vorpubertären Alter grundlegende ethische Fragen mitbrächten, an die pädagogisch sinnvoll angeknüpft werden könne. Neben dem Umgang mit Originalgegenständen in Kinderhänden und zu meidenden Bereichen in der Ausstellung wurde diskutiert, wie Inhalte kindgerecht vermittelt werden können, ohne sie zu verharmlosen.
Die Pädagogin und Historikerin Petra Maurer vom Denkort Bunker Valentin gab einen Einblick in das Projekt Audio-Guide für Kinder, in dem Schüler*innen der 3. Klasse pädagogisch begleitet einen Audioguide für kindliche Besucher*innen des Gedenkorts erarbeiten. Das Projekt richtet sich an Schulklassen aus der direkten Umgebung des Denkorts Bunker Valentin, die kontinuierlich über den Zeitraum von einem Jahr dazu arbeiten möchten. Voraussetzung sei die Freiwilligkeit der Teilnahme. Maurer hob den partizipativen und zugleich ergebnisorientierten Ansatz sowie die Herausforderungen und Besonderheiten hervor, die das Projekt mit sich bringe. Exemplarisch berichtete sie von einer Situation, in der die Kinder emotional von der Thematik „Strafen“ überfordert waren, was sich sowohl in einem verlagerten Konflikt unter den Kindern als auch in der Qualität der betreffenden Audio-Aufnahmen gezeigt habe
Am zweiten Workshoptag gab die Historikerin Ulrike Jensen von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme (Bereich Jugendbildung) einen Überblick über den Ist- und Diskussionsstand in der Gedenkstättenlandschaft hinsichtlich der pädagogischen Arbeit mit Kindern. Demnach seien die Formate der großen Gedenkstätten ab 14, oft erst ab 16 Jahre gedacht und es fehle an Evaluationen der bestehenden Formate für Kinder in den kleineren Gedenkstätten, die in Bezug auf die Arbeit mit Kindern im Vergleich deutlich flexibler seien. Auch seien die Ausstellungen von Gedenkstätten voraussetzungsvoll und Kinder würden dort nicht mitgedacht. Jensen wies zudem auf die Notwendigkeit des reflexiven Umgangs der beteiligten Multiplikator*innen mit der eigenen Betroffenheit und Berührtheit durch das Thema hin. Um diese nicht auf die Kinder zu projizieren und ihnen damit die Möglichkeit zu nehmen, einen eigenen Zugang zum Thema zu entwickeln, sei es notwendig, die eigene Motivation zu reflektieren: Warum wollen Gedenkstätten, Gedenkstättenpädagog*innen, Lehrkräfte oder Eltern, dass sich Kinder mit dem Thema befassen? Was hoffen sie damit zu erreichen? Und inwiefern besteht die Gefahr, dass ihre Erwartungen an den Bedürfnissen der Kinder vorbeigehen?
Johanna Jöhnck, Lehrerin sowie Fortbildnerin am Institut für Lehrerbildung und Schulentwicklung (LI), stellte das Kooperationsprojekt des LI mit der Internationalen Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem vor, welches unter anderem ein breites Fortbildungsprogramm für Lehrer*innen sowie pädagogisches Begleitmaterial anbietet. Anhand des Bilderbuchs Gern wäre ich geflogen wie ein Schmetterling (Naomi Morgenstern, 2000) erläuterte Jöhnck pädagogische Prämissen und Ziele: Um den Blick auf die Betroffenenperspektive zu richten, stehe die biographische Narration aus Perspektive der überlebenden Protagonistin im Vordergrund. Die Shoah werde nicht direkt behandelt, aber durch nicht überlebende Nebenfiguren werde auf den historischen Kontext verwiesen. Thematisiert werde dadurch statt der quantitativen Dimension der Massenverbrechen oder deren konkreten Abläufen vielmehr das Thema des individuellen Verlusts und die Frage, was es bedeutet, zu überleben. Durch Nebenfiguren aus der nicht-jüdischen Außenwelt würden – reale oder mögliche – Handlungs- und Entscheidungsspielräume sichtbar. Diese Figuren dürften dabei in ihren Rollen und Entscheidungen durchaus brüchig und ambivalent sein, um die Komplexität der Thematik pädagogisch vermittelbar zu machen.
Im Rahmen eines Podiumsgesprächs wurde von einem Projekt der Gedenkstätte Lager Sandbostel mit Grundschüler*innen berichtetet. Michael Freitag-Parey, Friedenspädagoge, Helmut Winkelmann, Leiter der beteiligen Grundschule, und Lina Stamme, eine ehemalige Projektteilnehmende, berichteten von dem Projekt, dessen Fokus zunächst auf grundlegenden Fragen zu Krieg und Frieden sowie Flucht und Migration liegt. Freitag-Parey versteht die teilnehmenden Schüler*innen gleichzeitig als Multiplikator*innen, da sie das erworbene Wissen in ihre Familien hineintrügen und einen intergenerationellen Austausch anregten. Gleichzeitig thematisierte er die Herausforderung, mit Gegenerzählungen aus den Familien umzugehen. Lina Stamme beschrieb, wie sie in der vierten Klasse zu der Biografie eines Überlebenden gearbeitet und das erworbene biographische Wissen später im Geschichtsunterricht gut mit den historischen Fakten habe verknüpfen können.
Daneben berichtete Sandra Wachtel über ihre Erfahrungen mit dem von ihr und Petra Maurer entwickelten Projekt Bücherbox der Gedenkstätte Bergen-Belsen, einer Kiste mit ausgewählter Kinderliteratur zum Thema (inkl. Einordnung und Begleitmaterial), als Angebot an Lehrkräfte..
Intensiv befassten sich die Teilnehmenden mit der Frage, wie Kindern der Nationalsozialismus vermittelt werden könne, ohne sie einerseits zu überfordern und andererseits die Thematik zu verharmlosen. Die vorgestellten Projekte und daran anknüpfenden Diskussionen zeigten, dass es in der Praxis durchaus möglich ist, sensibel und wirkungsvoll in diesem Spannungsfeld zu handeln. Eingehend diskutiert wurde, inwieweit das Verständnis der bundesdeutschen Gesellschaft als Täter*innengesellschaft eine kindgerechte Gedenkstättenpädagogik in Deutschland erschwere, weil zum einen eigene bzw. gesellschaftliche Ängste und Tabus übertragen würden und zum anderen Bedenken bestünden, den Fokus auf Rettung, Überleben und Solidarität zu legen, weil dies letztlich strukturell an die weiterhin wirkungsmächtige Abwehr einer Auseinandersetzung mit Massenverbrechen und Täterschaft anknüpfe. Die Reflexion der eigenen Rollen und Haltungen, aber auch das Einbeziehen von erziehungswissenschaftlichem und psychologischem Fachwissen über kindliches Lernen und die kindliche Psyche könne helfen, dieses vielfach formulierte Unbehagen zu dechiffrieren, den konkreten Herausforderungen fachlich zu begegnen und Berührungsängste abzubauen.
Insgesamt erwies sich der Workshop als äußerst produktives Treffen mit wertvollem interdisziplinärem Austausch. Um die Synergien zu nutzen, wurde vereinbart, einen Arbeitskreis zu gründen, in den auch weitere Fachpersonen wie z.B. Lehrkräfte und Erziehungswissenschaftler*innen einbezogen werden sollen. Ein wiederkehrender Diskussionspunkt war indes die mangelnde Finanzierung und Weiterführung von Projekten sowie die oft unzureichende Anerkennung pädagogischer Arbeit in Gedenkstätten. Bis auf das Projekt in Sandbostel sind alle vorgestellten Projekte frei, projekt- oder überhaupt nicht mehr finanziert. Qualitative Bildungsformate müssten entwickelt, erprobt, evaluiert und schließlich regelhaft in die Gedenkstätte implementiert werden. Der Workshop zeigte: Wissen, Erfahrung und Konzeptideen sind da, die Zielgruppe auch. Nun braucht es finanzielle Ressourcen und den Willen zu einer strukturellen Einbindung gedenkstättenpädagogischer Angebote für Kinder.
Der gesamte Bericht als pdf: Pdf (Gesamttext)
Bericht von Ronja Heinelt