07.06.2022 Bericht

Was passierte bei Kriegsende mit den Effekten aus dem KZ Neuengamme?

Reimer Möller, Archivar der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, hielt zur Eröffnung der Ausstellung #StolenMemory in Bad Oldesloe am 3. Juni 2022 eine Rede, in der er berichtete, was mit den persönlichen Gegenständen, die den Häftlingen im KZ Neuengamme von der SS abgenommen worden waren, nach dem Ende des Krieges passierte und wie sich die SS-Bewacher verhielten.

Die Ausstellung "Stolen Memory" ist Teil der Kampagne der Arolsen Archives, diese Gegenstände den rechtmäßigen Eigentümern zurückzugeben.

Die SS nahm Häftlingen, die in Neuengamme neu eingeliefert wurden, das mitgeführte persönliche Eigentum weg. Die beschlagnahmten Dinge, etwa Portemonnaies, Brieftaschen, Kettchen, Abzeichen, Armband- oder Taschenuhren, nach dem Vorbild des staatlichen Gefängniswesens "Effekten" genannt, wurden in Papiertüten verpackt, registriert und in der Effektenbaracke eingelagert.

Als die britische Armee bei der Besetzung Norddeutschlands zur Gemeinde Lunden/Dithmarschen vorgedrungen war, fand sie dort auf einer Kegelbahn ein großes Depot wertvoller Güter vor, das der Kommandanturstab des KZ Neuengamme dort angelegt hatte. Es handelte sich um ca. 7.800 Effekten-Umschläge. Der Wert der Gegenstände wurde auf 100.000 Pfund Sterling geschätzt – heutiger Wert: ca. 5,3 Millionen Euro. Weiter fanden die Briten Textilbestände der Neuengammer Häftlingskleider­kammer vor, die schätzungsweise zur Ausstattung von 10.000 Personen ausgereicht hätte.

Sicherlich mit demselben Güterzug wie die Effekten und Textilien war das Kommando Kaninchenstall des KZ Neuengamme mit rund 2.600 Angorakaninchen zunächst nach Wilster und von dort per Pferdefuhrwerk in den Saal einer Gastwirtschaft in der Gemeinde Dammfleth im Kreis Steinburg verlagert worden. In diesem Ort war der Kommandoführer der Angorazucht, SS-Unterscharführer Hugo Schnepel, zu Hause. 

Der Neuengamme-Häftling Schröder hatte die Briten informiert, Spirituosenvorräte und Lebensmittelpakete des Dänischen Roten Kreuzes, die für skandinavische Häftlinge bestimmt waren, wären auf Veranlassung von KZ-Kommandant Pauly per Lastkraftwagen in den Saal der genannten Gastwirtschaft gebracht worden. Der Inhaber Jakobsen fungierte als Leiter der Neuengammer Häftlingskantine. Als die Briten kamen, waren die Vorräte allerdings bereits weiterverlagert worden – nach Flensburg in den Innenhof der Gestapo-Dienststelle.

Viele SS-Leute, die dort wieder ins Zivilleben traten, nahmen mit, was sie tragen konnten. Die Anlage versteckter Depots wertvoller gestohlener Güter geschah auf Einzelinitiative korrupter SS-Funktionäre oder in anderen Fällen auf Befehl der Inspektion der Konzentrationslager in Oranienburg. Die Depots wertvoller Güter und Vorräte waren nur ein Randaspekt des "Krisenmanagements" von 1944/45 der Verantwortungsträger im KZ-System.

Zentraler Schwerpunkt war der Abtransport der Häftlinge aus den Lagern. Das beruhte auf Himmlers Maßnahmenplanungen für den Fall der Annäherung des Feindes, die er wenige Tage nach der Invasion der Alliierten in der Normandie erlassen hatte. Die Gauwirtschaftskammer, d.h. die führenden Repräsentanten der Hamburger gewerblichen Wirt­schaft, drangen seit Januar 1945 darauf, die "KZ-Elendsgestalten" aus dem Stadtgebiet zu entfernen. Reichsstatthalter und NSDAP-Gauleiter Karl Kaufmann befahl ihre "Evaku­ierung". Die vier wichtigsten Evakuierungsziele waren das KZ Bergen-Belsen, das Kriegsgefangen­enlager der Wehrmacht in Sandbostel, ein Barackenlager bei Wöbbelin in Mecklenburg und die Schiffe "Cap Arcona" und "Thielbek" in der Lübecker Bucht. Beide Schiffe wurden von der Royal Air Force angegriffen, Zahl der Todesopfer unter den Häftlingen: 7100.

Seit dem 20. April 1945 war das Hauptlager in Neuengamme von Häftlingen geräumt. Das KZ-Bewachungspersonal formierte dort vier improvisierte Truppenverbände, die Kampfgruppen "Neuengamme", "Weber", "Dusenschön" und das "Marschbataillon Blümel". In den letzten Apriltagen 1945 wurden diese ad hoc-Truppenkörper beim Zollenspieker in Hamburg an das Ufer der Elbe geführt, um sich dem Vormarsch der britischen Armee in den Harburger Bergen in den Weg zu stellen. Dazu kam es aber nicht. Hamburg sollte ab dem 2. Mai 1945 eine entmilitarisierte Stadt sein, hatte der Wehrmacht-Kampfkommandant mit der britischen Armee vereinbart. Daher zog es die SS nach Norden.

Dusenschön führte seinen Verband über Elmshorn, Brunsbüttelkoog nach Heide, wo er ihn auflöste und entließ. Die übrigen KZ-Wächter-Bataillone orientierten sich in Richtung Lübecker Bucht, um die "Cap Arcona" zu erreichen. In Eutin erfuhren die SS-Leute von der Versenkung. Sie bogen ab, Richtung Kiel, weiter nach Flensburg, weiter die Westküste entlang zum Gasthof Jacobsen in Westerdeichstrich. Viele SS-Leute demobilisierten sich dort selbst und kehrten in ihre Heimatorte zurück.

In Flensburg war bereits allerhand SS-Prominenz versammelt, z.B. der Reichsführer SS Heinrich Himmler, sein persönlicher Stab mit 150 Angehörigen, die Inspektion der Konzentrationslager und diverse regionale Gestapo-Behörden. In der Marineschule Mürwik arbeitete ein "Auffangstab" unter dem prominenten U-Boot-Kommandanten Reinhard Hardegen, der SS-Personal mit Kriegsmarine-Soldbüchern und neuen Marineuniformen ausstattete. Die maritim Verkleideten teilte er Marineformationen zu, mit denen sie in britische Gefangenschaft gehen konnten, ohne dass die SS-Zugehörigkeit offenbar wurde. Reste des Bataillons Blümel wurden in Flensburg festgenommen. Wie die Zusammenstellung der namentlichen Nachweise der Internierungslager der britischen Armee aus dem Jahre 1947 ausweist, waren rund 750 Neuengammer KZ-Wächter als solche identifiziert und in Haft.

Zurück zu den Häftlings-Effekten: Sie wurden am 15. Juni 1945, verpackt in versiegelten Kästen, der Spar- und Leihkasse Husum zur sicheren Verwahrung übergeben. Deren Geschäftsführe wurde als Treuhänder vereidigt. Der britische Militärgouverneur des Kreises Husum wurde angewiesen, eine maschinenschriftliche namentliche Aufstellung der Eigentümer der Häftlingseffekten anfertigen zu lassen. Dazu sah er sich nicht in der Lage. Er habe keinen Zugriff auf Schreibmaschinen und auch keinen auf Verwaltungspersonal, das damit umgehen könne. Daher wurden Verbindungsoffiziere aus Frankreich, Belgien und den Niederlanden, die bei der britischen Armee akkreditiert und im Hamburger Curiohaus stationiert waren, nach Husum beordert. Sie konnten die Schreibarbeit von deutschem Personal erledigen lassen. Später wurden weitere Listen, geordnet nach Nationalität der Eigentümer/innen, geschrieben und mit den zugehörigen Effekten den Rot-Kreuz-Organisationen oder Innenministerien der jeweiligen Länder zur Rückgabe an die Eigentümer/innen oder ihre Erben übergeben. Mit demselben Auftrag wurde das Eigentum der deutschen Häftlinge dem Oberpräsidenten der Provinz Schleswig-Holstein in Kiel übergeben.

Die Suche nach den Eigentümern oder Erbberechtigten war jedoch enorm schwierig, weil die SS im April 1945 ja alle Häftlings-Karteien und Häftlings-Personalakten hatte verbrennen lassen. Die Besatzungsbehörden nahmen daher die Hilfe der befreiten Häftlinge in Anspruch, die sich sofort nach der Befreiung zum "Komitee ehemaliger politisch, rassisch und religiös Verfolgter" zusammengeschlossen hatten. Im Zuge dieses Informationsaustausches bekam das Komitee die "Husum-Liste" der Effektenbesitzer. Die Akten des Komitees mit der Liste sind viel später dem Archiv der KZ-Gedenkstätte Neuengamme übergeben worden. Für uns ist das Material eine sehr große Hilfe gewesen, unsere Häftlings-Datenbank zu vervollständigen. Für hunderte ehemalige Häftlinge ist die Registrierung in der Husumer Effektenliste der einzige dokumentarische Nachweis ihrer KZ-Haft.

Die schwierige Suche nach den rechtmäßigen Eigentümern ist in ca. 4400 Fällen erfolglos geblieben. Der unanbringliche Restbestand der Effekten wurde am 18. April 1947 von Husum nach Kiel in das Gebäude der dortigen Reichsbankfiliale überführt. Schließlich übertrug die britische Besatzungsmacht die weitere Erledigung der Aufgabe der Landesregierung von Niedersachsen. Schließlich gelangten die Effekten von Bad Nenndorf nach Arolsen zum Internationalen Roten Kreuz, den heutigen Arolsen Archives.

Die gesamte Rede als pdf: Rede

Die Ausstellung #StolenMemory wurde auch bereits in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme gezeigt: Video zur Ausstellungseröffnung

Weiterführende Literatur: Sebastian Schönemann und Reimer Möller: Der Bestand der Effekten ehemaliger Häftlinge des KZ Neuengamme in Verwahrung des ITS. In: Freilegungen. Auf den Spuren der Todesmärsche. Hrsg. von Jean Luc Blondel, Susanne Urban und Sebastian Schönemann. Göttingen, 2021.