05.09.2016 Bericht
Am 1. September 2015 landet in Berlin Schönefeld ein Flugzeug aus Perm in Russland. Ein junges Mädchen steigt mit zwei riesigen Gepäckstücken aus, damals wusste es noch nicht, was vor ihr liegt. In diesem Moment waren ihre Gedanken bei der künftigen Arbeit in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, wo es erwartete, ihr Wissen über die deutsche Erinnerungskultur erweitern und interessante Materialien für ihre künftige wissenschaftliche Arbeit sammeln zu können.
Fast ein Jahr ist vergangen und ich kann schon jetzt sagen, dass dieses Freiwilligenprojekt von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste für mich mehr bedeutet, als die Annäherung an die Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit. Eine wichtige Rolle dabei spielt die Begegnung und die persönliche Korrespondenz mit Überlebenden der Konzentrationslager, mit ehemaligen Zwangsarbeiter_innen und anderen Überlebenden des Nationalsozialismus, besonders aus der ehemaligen Sowjetunion. Sie dachten, es gäbe nichts Schlimmeres als die nationalsozialistischen Konzentrationslager und erlebten nach der Rückkehr in ihre Heimat weitere Grausamkeiten. Der sowjetische Staat schickte sie nach Sibirien. Verwandte und Freunde wendeten sich ab. Die Erinnerung an ihr Leiden geriet für viele Jahre in Vergessenheit. Das Trauma, das aus dieser Ausgrenzung resultierte, ist bis heute prägend für ihren Alltag.
Jevgenij Malychin, ehemaliger Häftling des KZ Neuengamme, überlebte das Bombardement des Schiffes Cap Arcona durch englische Streitkräfte. Er berichtet immer wieder, dass er sich über zehn Stunden lang in eisigem Wasser an einem Holzboot festhielt. Jedes Mal am Ende seiner Erzählung sagt er "Bis heute kann ich nicht verstehen, wie ich damals überlebte. Wie?" In diesem Jahr kamen nur drei Überlebende aus den ehemaligen Ländern der Sowjetunion zu den Gedenkfeiern nach Neuengamme, und trotz der anstrengenden Anreise kommen sie jedes Jahr und lehnen stets unser Angebot ab, einen Rollstuhl zu benutzen. Wenn sie aus dem Flugzeug aussteigen, ist ihre erste Frage "Wo ist Wowa, wo ist Tanja? Sie waren doch im letzten Jahr da". Und nach einigen Stunden werden wir zu diesen Tanjas und Wowas, mit denen im Laufe des vergangenen Jahres ein Treffen herbeigesehnt wurde.
In diesem Jahr besuchte ich mehr als sieben Gedenkstätten ehemaliger Konzentrationslager und ihrer Außenlager, mehr als ein Dutzend Veranstaltungen und Vorträge zum Thema Nationalsozialismus. In dieser Hinsicht wurden meine Erwartungen an das Projekt voll erfüllt. Ein besonderes Erlebnis war mein Besuch des Geländes der ehemaligen Pulverfabrik in Liebenau. Dank der Initiative von Martin Guse und seiner Freiwilligen aus Liebenau und Belarus fand eine internationale Begegnung statt unter dem Thema "Lehren aus der Vergangenheit", zu der etwa 40 Jugendliche gekommen sind. Jugendliche aus Polen, der Ukraine, Belarus und Deutschland trafen sich und sprachen über Rassismus und Diskriminierung. Der Höhepunkt des Programms war ein Treffen mit dem uns schon von Neuengamme vertrauten ehemaligen Häftling Karl Ivanovich Pajuk aus der Ukraine.
Vor einem Jahr konnte ich mir nicht vorstellen, dass aus einem einfachen Schriftwechsel mit Karl Pajuk aus der Ukraine, Überlebender des "Arbeitserziehungslagers" Liebenau und des KZ Neuengamme, eine tiefe Freundschaft entstehen würde. Wir trafen uns in Hamburg: wir lachten, wir weinten gemeinsam. Er erzählte auf Ukrainisch, ich antwortete auf Russisch, wir sangen, tanzten, umarmten uns und scherzten. Als wir uns im Mai verabschiedeten, waren wir schon Freunde. Ich ermunterte ihn zu einem Treffen im nächsten Jahr; er schaute zweifelnd - ob er das noch schaffen würde?
"Ein Jahr mit Erfahrungen eines ganzen Lebens", so würde ich meine Zeit in Deutschland zusammenfassen. Ich treffe neue Leute, lerne und erfahre viel, reise, lasse mich 'verzaubern', begeistern, sehe Leben und auch Tod. Dank des Projektes habe ich selbstlose und beherzte Menschen kennengelernt, die mich gelehrt haben, Krisen zu meistern und trotz schwieriger Umstände zu handeln und seinem Nächsten zu helfen. Das Projekt hat mich zu denken gelehrt.
Mein Interesse an der Geschichte der Welt und verschiedenen Kulturen, insbesondere an der Geschichte meiner eigenen Familie, wurde geweckt. In diesem Jahr habe ich viel Zeit in Archiven verbracht und Dokumente über meinen Urgroßvater gefunden, der am Krieg teilnahm. Während der ASF- Reise mit den anderen Freiwilligen nach Polen habe ich einen Friedhof für sowjetische Kriegsgefangene gefunden. Dort ist der Bruder meines Urgroßvaters begraben. Er starb mit 20 Jahren fünf Monate vor Kriegsende, nach seinem Kampf für die Befreiung Polens.
Es ist für mich wichtig, weiter in diesem Bereich Erinnerungskultur zu arbeiten und mein Engagement in Russland fortzusetzen. Für mich persönlich ist es auch wichtig, mich weiterhin gegen Hass und Diskriminierung von Minderheiten einzusetzen, um die Welt ein wenig freier und friedlicher zu gestalten.
Bericht von Viktoria Kutdusova