01.02.2019 Veranstaltung, Bericht

Podiumsdiskussion zu Hamburgs Umgang mit dem NS-Erbe

Inwiefern haben sich Politik, Wirtschaft und Wissenschaft, aber auch Bürgerinnen und Bürger nach 1945 mit der NS-Zeit in Hamburg auseinandergesetzt – und welche neuen Herausforderungen stellen sich heute im Umgang mit dem städtischen NS-Erbe? Diese Fragen standen im Fokus einer Podiumsdiskussion am 31. Januar in den Räumen der Patriotischen Gesellschaft. Die Veranstaltung fand im Rahmen des Begleitprogramms zur Ausstellung "Eine Stadt und ihr KZ" statt.

Auf welchem Stand befindet sich die Aufarbeitung der NS-Geschichte der Stadt, wie hat sich die Bereitschaft zur Auseinandersetzung über die Jahrzehnte entwickelt, welche Fragen müssten stärker in den gesellschaftlichen Fokus rücken? Hierüber diskutierten PD Dr. Kirsten Heinsohn (Forschungsstelle für Zeitgeschichte Hamburg), Prof. Dr. Franklin Kopitzsch (Universität Hamburg), Prof. Dr. Malte Thießen (LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte Münster) und Dr. Detlef Garbe (KZ-Gedenkstätte Neuengamme). Moderiert wurde die Podiumsdiskussion, die in Kooperation mit der Patriotischen Gesellschaft ausgerichtet wurde, von Carmen Ludwig (Körber-Stiftung).

Einigkeit herrschte in der Runde darüber, dass sich in Hamburg in der Nachkriegszeit bis in die 1960er-Jahre kaum mit der NS-Vergangenheit auseinandergesetzt worden sei. Die Bedeutung des KZ Neuengamme, das nach dem Krieg zunächst als britisches Internierungslager, und dann für viele Jahrzehnte als Gefängnis genutzt wurde, sei "im Stadtgedächtnis lange kein Thema" gewesen, so Detlef Garbe. Vielmehr, bemerkte Franklin Kopitzsch, hätte sich in Hamburg schnell die Legende vom „Hamburger Sonderweg“ entwickelt, wonach der Nationalsozialismus „in Hamburg im Vergleich zum übrigen Reich relativ wenig eingedrungen sei“ – eine in weiten Teilen trügerische Vorstellung, die auch die Hamburgerinnen und Hamburger selbst hätten entlarven können, denn: "Wer wissen wollte, konnte vieles wissen", verdeutlichte Malte Thießen in Anlehnung an die von den Nationalsozialisten begangenen Verbrechen, die gerade nicht vor den Toren der Stadt Halt machten, wie auch die aktuelle Sonderausstellung "Eine Stadt und ihr KZ" im Rathaus zeigt. Viele weitere Faktoren, so die Runde, begünstigten die Ausblendung der Ereignisse und Folgen der Jahre 1933 bis 1945 – darunter unter anderem die hohen personellen Kontinuitäten in Verwaltung und Justiz und nicht zuletzt die vorherrschende Einstellung der Bevölkerung: "Man sah sich selber als Opfer", erklärte Detlef Garbe. Die NS-Zeit sei "sehr präsent" gewesen, "aber eben nicht so, wie wir das heute verstehen, sondern als 'der Krieg'", so Malte Thießen.

Im Zuge einer in den 1960er-Jahren beginnenden Umbruchphase folgte 20 Jahre später dann der "entscheidende Wendepunkt", so Kirsten Heinsohn: Unter anderem rücken die Geschichten und individuellen Biografien der Opfergruppen, welche auch im Mittelpunkt des 1979 in Deutschland ausgestrahlten Fernsehmehrteilers "Holocaust" stehen, stärker in den Vordergrund. Die Hamburger Geschichtswerkstätten entstehen in den Bezirken, 1986/1987 kommt es zum "Historikerstreit" in der Bundesrepublik über die Bewertung des Holocaust. Diese Entwicklungen, so Heinsohn, bildeten dann auch die Grundlage für die Hamburger Stolperstein-Initiative ab 2002.

Aktuell erleben die Gedenkstätten bundesweit ein enormes Besucherwachstum, allein die KZ-Gedenkstätte Neuengamme konnte in den vergangenen zehn Jahren die Zahl ihrer Besucherinnen und Besucher auf zuletzt 138.000 verdoppeln. Kann die Aufarbeitung des NS-Erbes also ad acta gelegt werden, weil eine Erinnerungskultur etabliert ist? Malte Thießen sieht vor dem Hintergrund aktueller rechtspopulistischer Tendenzen in der Gesellschaft ebenso eine Entwicklung hin "zu einer unglaublichen Mobilisierung und neuen Bündnissen", die sich für eine weitere Aufarbeitung einsetzten. Erinnerung werde wieder zum Thema. Gleichzeitig sehe er mit Blick auf den Besuch von KZ-Gedenkstätten dennoch "Nachholbedarf". Kirsten Heinsohn konstatierte auf Forschungsebene, insbesondere zur Rolle der Hamburger Wirtschaft während der NS-Zeit, ein "großes Desiderat". Die von Hamburg ausgehenden Aktivitäten müssten erhellt werden  gerade hinsichtlich der Ausraubung der "Ostgebiete" und der Implementierung von Zwangsarbeit*.

Franklin Kopitzsch bezeichnete den aktuell kontrovers diskutierten Umgang der Stadt mit dem geplanten Gedenk- und Lernort Hamburger Stadthaus, in dem sich zwischen 1933 und 1943 das Hauptquartier der Gestapo befand, als "beschämendes Kapitel". Die Verantwortlichen müssten hier gegensteuern, um diesen "zentralen Ort der Verfolgung und vom Widerstand" angemessen zu würdigen. Generell wünschte sich Kopitzsch zur Aufarbeitung des Hamburger NS-Erbes eine intensivierte Zusammenarbeit auf städtischer Ebene. Um das Thema Stadthaus, aber beispielweise auch um eine zu hinterfragende Legendenbildung bei Personen des öffentlichen Interesses drehte sich dann die anschließende offene Diskussion mit den rund 180 Gästen.

Was wollen wir wissen?  Diese Frage, so Kirsten Heinsohn abschließend, müsste sich die Gesellschaft bei der Auseinandersetzung mit dem NS-Erbe immer neu stellen. Gleichwohl gelte: "Wir werden damit nie zufrieden sein, weil wir immer neue Fragen stellen."

Ausstellung "Eine Stadt und ihr KZ"

 

*Zur Rolle der Hamburger Wirtschaft bei dem Einsatz von KZ-Häftlingen in der Stadt hielt Dr. Marc Buggeln von der Humboldt-Universität Berlin schon am Tag zuvor vor 90 Zuhörerinnen und Zuhörern einen Vortrag in der Handelskammer Hamburg, der auf Grund vieler Quellen deutlich machte, in welchem Ausmaß wirtschaftliche Unternehmen in Hamburg vom Einsatz der KZ-Häftlinge profitiert haben.