27.02.2025 Bericht

„Welche Stimme haben wir?“: Nachkomm*innen von NS-Verfolgten sprechen vor 200 Schüler*innen

In einem Podiumsgespräch vor der Schulaufführung des Theaterstücks „Das Tagebuch der Anne Frank“ im Altonaer Theater erzählten Projektteilnehmende vom Schweigen in den Familien der NS-Verfolgten und ihrem eigenen gesellschaftlichen Engagement.

Anlässlich des 80. Jahrestags der Befreiung des KZ Auschwitz führte das Altonaer Theater „Das Tagebuch der Anne Frank“ einen Monat lang auf. Für das Rahmenprogramm der Schulvorführung ging das Theater eine Kooperation mit der KZ-Gedenkstätte Neuengamme ein. Ziel war es, dem jungen Publikum zu vermitteln, dass Themen, die bei der Auseinandersetzung mit Anne Franks Geschichte, z.B. Angst und Durchhaltewillen sowie Täter*innen und Helfer*innen, auch für die Beschäftigung mit den Erfahrungen von NS-Verfolgten an anderen Orten in Europa und auch in Hamburg von Bedeutung sind – und sie deren Familien immer noch prägen. Vier Nachkomm*innen, die im Rahmen des Projektes „Welche Stimme haben wir?“ der KZ-Gedenkstätte Neuengamme an der Entwicklung einer Online-Ausstellung und von Materialien für die Bildungs- und Erinnerungsarbeit mitwirken, sprachen vor der Aufführung über die Verfolgung ihrer Eltern bzw. Großeltern, die Bedeutung ihrer Familiengeschichten für ihre Identität und ihre Wünsche für ein nachhaltiges Erinnern. Die Verwandten der Podiumsgäste wurden von den Nazis aus politischen, antisemitischen, rassistischen und sozial-rassistischen Gründen verfolgt.

Viele Gemeinsamkeiten

Norma van der Walde, deren Vater Kurt van der Walde als junger Mann im Hamburger Widerstand gegen die Nazis aktiv gewesen war, erzählte den Jugendlichen, dass sie ganz besonders vom Mut ihres Vaters beeindruckt sei. Auch die Eltern von Daniel Rebstock Herta und Carlheinz Rebstock hatten in Hamburg Widerstand geleistet. Sie kannten den etwas älteren Kurt van der Walde von den gemeinsamen Aktionen. Auch nach dem Krieg waren sie noch miteinander befreundet. Dass nach dem Sieg der Alliierten über Nazi-Deutschland nicht alles vorbei gewesen war, sondern viele Nazis schnell wieder wichtige gesellschaftliche Positionen bekleideten, konnte Daniel Rebstock den Jugendlichen deutlich vermitteln: „Mutter hat den Gestapo-Beamten, der sie verhaftet hat, auf dem Mühlenkamp wiedergetroffen.“ Seine Mutter war bei ihrer ersten Verhaftung erst 16 Jahre alt gewesen.

Keiner der Podiumsgäste hatte als Kind oder Jugendlicher direkt von den Überlebenden über die KZ-Zeit erfahren. Shlica Weiß, deren Großeltern als Sinti verfolgt wurden und mehrere Konzentrationslager überlebten, fasste zusammen: „Nein, es gab nicht ein Gespräch, in dem mir alles darüber erzählt wurde.“ Wie auch Norma und Daniel erfuhr sie mehr nebenbei immer mehr Informationen. Daniel Rebstock erklärte: „Ich habe Sachen gelesen, schon als Kind, die waren sicher nicht für mein Alter bestimmst.“ Und trotz der Verschlossenheit der Erwachsenen wussten sie Bescheid. Shlica Weiß wusste von der Ermordung vieler Verwandter, den Verfolgungserfahrungen und der Diskriminierung, die auch nach 1945 fortdauerte.  Während die anderen drei Podiumsgäste für ein Handout zu ihren Familiengeschichten Fotos ihrer Verwandten hatten zur Verfügung stellen können, war dies Shlica Weiß aus Rücksicht auf ihren Großvater nicht möglich gewesen. Zu groß sei bei ihm die Sorge, jemand, der Sinti nicht respektiere, ihnen womöglich Schlechtes antun wolle, könnte das Foto missbrauchen.

In der Familie von Johannes Abeler war das Schweigen so umfassend, dass er von der Verfolgung seines Großvaters Karl Martens als Sozialdemokrat und dessen Ermordung im KZ Neuengamme erst als junger Mann erfuhr. Karl Martens war einer der wenigen gewesen, der in seinem Dorf offen darüber sprach, dass er gegen die Nazis war. Seine Zwangssterilisation nutzten die Nazis im Dorf um ihn zu drangsalieren. Im Streit erschlug er einen von ihn. Nach einer Zuchthausstrafe wurde er in das KZ Neuengamme eingewiesen und verstarb dort.

Ein Appell für die Menschenwürde

Norma van der Walde, Shlica Weiß und Daniel Rebstock waren sich einig, dass ihnen auch als Kinder schon klar war, dass sie nicht außerhalb der Familie oder des Kreises der Überlebenden darüber sprechen sollten, dass sie aus Familien mit Verfolgungsgeschichte kamen. Johannes Abeler berichtete, dass seine Mutter und Großmutter auf dem Dorf nach dem Tod des Großvaters im KZ immer ausgegrenzt gewesen sein. Der Umzug nach Hamburg, wo niemand die Familiengeschichte kannte, sei eine Art Befreiung für seine Mutter gewesen. Norma van der Walde erklärte, dass der bereits erwähnte Mut ihres Vaters Widerstand zu leisten letztendlich ihre Motivation war, öffentlich über ihre Familiengeschichte zu sprechen. Die Botschaft dabei sei, so fasste es Shlica Weiß zusammen: „Wir alle sind wertvoll. So wie wir sind. Das dürfen, das müssen wir zeigen.“

Das Gespräch wurde moderiert von Ansgar Tonya Karnatz und Swenja Granzow-Rauwald, Mitarbeiter*innen im Projekt „Welche Stimme haben wir?“.

Das Projekt „Welche Stimme haben wir?“ ist ein Kooperationsprojekt der KZ-Gedenkstätte Neuengamme mit der Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen, AMCHA Deutschland e.V. und dem Bundesverband Information und Beratung für NS-Verfolgte e.V. Gefördert wird das Projekt von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) und dem Bundesministerium für Finanzen (BMF) im Rahmen der Bildungsagenda NS-Unrecht.