01.02.2020 Nachricht

Lucille Eichengreen zum 95. Geburtstag

Lucille Eichengreen feiert heute in Oakland, USA, ihren 95. Geburtstag. Als Cecilie Landau in Hamburg in eine jüdische Familie geboren, wurde sie mit 15 Jahren mit der Haft und dem Tod des Vaters im KZ Dachau konfrontiert, 16-jährig wurde sie gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrer jüngeren Schwester mit dem ersten Deportationszug aus Hamburg ins Getto Litzmannstadt verschleppt, musste mit 17 Jahren den Hungertod ihrer Mutter und die Trennung von ihrer Schwester (die in Chelmno vergast wurde) miterleben.

Bei der Auflösung des Ghettos wurde sie von Lodz ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert. 19-jährig kehrte sie im Sommer 1944 nach Hamburg zurück, musste in den Außenlagern des KZ Neuengamme Dessauer Ufer und Sasel für die Hamburger Kriegswirtschaft als Arbeitssklavin Aufräumungs- und Bauarbeiten leisten. Im April 1945 erlebte sie mit 20 Jahren das Inferno im KZ Bergen-Belsen und ihre Befreiung durch die britischen Truppen. Als einzige Überlebende ihrer Familie auf sich allein gestellt, emigrierte sie nach der Befreiung in die USA. Sie heiratete, gründete eine Familie. Um ihren traumatischen Erlebnissen in der NS-Zeit zu begegnen, begann sie in den 1990er Jahren ihre Erinnerungen aufzuschreiben. 1992 erschien ihre Autobiografie mit dem Titel Von Asche zum Leben. Erinnerungen.

Trotz wiederholter Kränkungen, Unbedachtheiten und Desinteresse von Seiten ihrer Heimatstadt nahm sie Anstrengungen und die Konfrontation mit dem Schmerz der eigenen Erinnerungen auf sich, um in Hamburg davon zu berichten, was in der Zeit der Nazi-Herrschaft in eben dieser Stadt ihrer Familie angetan wurde. Ihre kritischen Anfragen an das Selbstverständnis und die Formen des Erinnerns und des Umgangs mit Orten des Verbrechens, wie mit dem Bahnhof, von dem aus die Deportationszüge starteten, ihre kritischen Worte über den Umgang mit Überlebenden als auch mit Täterinnen und Tätern in dieser Stadt bleiben eine wertvolle Unterstützung für die Schärfung von Sensibilität und für eine bleibende Aufmerksamkeit. Ihre Stimme ist und bleibt Mahnung für die Gestaltung der Gegenwart und Zukunft, ihre Stimme, so Detlef Garbe in seinem Beitrag zur Festschrift zu ihrem 90. Geburtstag, verhindere bis heute eine seichte Versöhnung, die folgenlos bliebe und zur Vorstufe des Vergessens geraten könnte.

Lucille Eichengreen ist eine überaus beeindruckende Zeitzeugin mit einem Schicksal, das die Shoah durch die Summe der erlittenen Verfolgungsstationen, die Ausgrenzung und Entrechtung an einem Einzelbeispiel, einer vor 1933 gesellschaftlich integrierten Familie, deutlich macht. Immer wieder kehrte Lucille Eichengreen nach Hamburg zurück und legte Zeugnis ab. Sie sprach zur Neueröffnung der KZ-Gedenkstätte Neuengamme am Ort des historischen Lagergeländes im Mai 2005, zur Eröffnung der Gedenkstätte Plattenhaus Poppenbüttel, die am Beispiel des KZ Sasel an die Hamburger Frauenaußenlager des KZ Neuengamme erinnert, sie sprach 2017 zur Eröffnung des denk.mals Hannoverscher Bahnhof, der an die Deportationen aus Hamburg erinnert. An all diese Orte hat sie persönliche Erinnerungen.

Lucille Eichengreen kann niemals „versöhnt“ sein. Sie könne nicht vergessen und nicht vergeben. Gerade solche Stimmen wie die ihre, die an die grausamen Folgen von der Abkehr der Menschlichkeit erinnern, sind heute umso wichtiger, um Schlussstrich-Vertreterinnen und Vertretern deutlich zu machen, dass die Nazi-Vergangenheit eben nichts Vergangenes ist. Die Erinnerung daran muss wach gehalten werden.

 

Nachtrag 8.2.2020:

Mit Bestürzung haben wir erfahren, dass Lucille Eichengreen am 7. Februar, wenige Tage nach ihrem 95. Geburtstag, in den USA verstorben ist. Ihre Stimme ist nun verstummt, ihr Vermächtnis, nie zu vergessen, lebt weiter. Unsere Gedanken sind bei ihrer Familie.