07.04.2021 Bericht

Dita Kraus: Aber meine Erinnerungen lassen sich nicht abschütteln

Als die 91-jährige KZ-Überlebende Edith (Dita) Kraus an Corona erkrankte und mehrere Wochen im Krankenhaus behandelt werden musste, entstand ein Text, in dem sie über ihre Erinnerungen und Gedanken an Auschwitz schreibt.

Die 1929 in Prag geborene Edith (Dita) Kraus wurde von den Nationalsozialisten als Jüdin verfolgt. Dita überlebte die Konzentrationslager Auschwitz und Bergen-Belsen sowie drei Außenlager des KZ Neuengamme. Ihre Eltern überlebten nicht. Heute lebt Dita Kraus in Netanya/Israel. Im letzten Jahr erschien das gemeinsam von der Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte und der Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten herausgegebene Buch „Ein aufgeschobenes Leben“ im Wallstein-Verlag. Im Februar verbrachte sie mehrere Wochen mit einer Corona-Infektion im Krankenhaus. Dort entstand folgender Text, den sie uns schickt und der in der Zeitschrift „Der Spiegel“ im April 2021 abgedruckt wurde:

 

„In den vielen Stunden im Krankenhausbett, im Dämmerzustand zwischen Schlafen und Wachen, tau­chen meine Gedanken in die dunklen Kellerräume der Erinnerung ab. Hier sind sie, die Erinnerungen, vor Jahrzehnten weggeschlossen, zu schrecklich, um mich ihnen zu stellen. Sie überfluten mich in meinem Halbschlaf, und ich werde sie nicht mehr los. Die Gaskammern. Was ist das? Manche sagen, es habe sie gar nicht gegeben. Eine Art jüdischer Mythos, in diesem Krieg, irgendwo in Europa. Wen interessiert das schon, das ist doch so lange her!

Aber meine Erinnerungen lassen sich nicht abschütteln. Sie müssen raus! End­lich raus! Ich muss es erzählen! Ich denke, nein, nein, bleibt da. Dann wieder: Ich kann nicht. Und schließlich: Niemand kann das ertragen. Aber die Worte, die ich vor Jahren las, geschrieben von einem Mitglied des Son­derkommandos in Auschwitz, diese Worte müssen die Menschen hören. Sie sind so grausam, unerträglich, aber sie müssen ausgesprochen werden. Ich erinnere mich weder an den Namen des Mannes noch an den exakten Wortlaut:

Durch einen Fehler im Ablaufplan traf die Gruppe der nackten Männer im Flur auf die Kolonne der nackten Frauen, die darauf warteten, in die Gaskammer getrieben zu werden. Einer der Männer entdeckte seine Frau, eilte auf sie zu und hielt sie fest umarmt, bis die Wachen die beiden auseinanderprügelten und die Frau mit den anderen in die Gaskammer gestoßen wurde. Der reguläre Ablauf war folgendermaßen: Im Flur mussten sich die Gefangenen ausziehen und wurden dann in die Gaskammer gedrängt, bis kein Platz mehr war. Die Eisentür wurde zugeschlagen. Die Löcher in der Decke wurden geöffnet, damit das Zyklon B in den »Duschraum« strömen konnte. Schreie, Husten und Würgen, die verknäulte Masse aus Menschen hob sich und wand sich. Mütter hoben ihre Babys näher an die Öffnungen, um ihre Qual zu verkürzen. Von oben beobachteten die Wachen das Ganze durch Gucklöcher, so lange, bis sich nichts mehr bewegte. Das dauerte etwa 20 Minuten, manchmal länger.

Die Körper wurden von den Männern des Sonderkommandos nach draußen gezerrt. Sie schnitten den toten Frauen und Mädchen die Haare ab und schlugen ihnen die Goldzähne aus. Die Wachen beobachteten sie dabei genau, damit auch nicht ein einziges Gramm des wertvollen Goldes in den Händen der Männer verschwand. Anschließend wurden die Körper verbrannt oder in Massengräber geworfen. Die Asche der Opfer wurde in der Umgebung verstreut. Auch der Rauch aus den Schornsteinen der Krematorien enthielt Asche, die wie Schneeflocken die Luft füllten. Sie vermischten sich mit der Erde der ganzen Gegend.

Heute laufen Tausende Besucher über die Erde in der Gedenkstätte Auschwitz, ohne zu wissen, dass sie die Asche der Toten enthält. Ich bin froh, dass meine Eltern nicht in der Gaskammer starben. Mein Vater hatte Glück, denn er starb vor der Selektion durch Dr. Mengele. Mir bleibt deshalb die schreckliche Vorstellung seines Todes in der Gaskammer erspart. Aber der Vater meines Mannes Otto wurde nicht verschont. Er blieb im Lager und starb in der Gaskammer mit all denen, die die Selektion nicht überstanden.

Ottos Vater war ein Amateurtenor. Er sang Opernarien bei Festen und Wohltätigkeitsveranstaltungen, was Otto damals peinlich war. Doch später im Leben tat es Otto leid, dass er die Gefühle seines Vaters verletzt hatte. Wann immer er im Radio eine Arie hörte, die auch sein Vater einst gesungen hatte, entfuhr ihm ein tiefer Seufzer der Trauer und der Reue.

Wenn aber ich, die ich seinen Vater nicht kannte, an dessen Tod denke, schnürt sich mir die Kehle zu.“

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