10.11.2018 Zeitzeugengespräch
Am 9. November 2018 war Marianne Wilke in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme zu Gast, um über ihre Erlebnisse aus der Vergangenheit zu berichten. Der Hauptfokus ihres Berichtes lag auf ihrer Kindheit im Nationalsozialismus und einzelnen Ereignissen zwischen 1933 und 1945, die sich stark in ihr Gedächtnis einprägten, sowie der Auswirkungen der Verfolgung ihrer Familie auf ihr heutiges Leben.
Sie selbst sei in einer weitgehend unpolitischen und nicht gläubigen Familie aufgewachsen. Ihre Mutter war gelernte Schneiderin, arbeitete jedoch als Hausfrau, um sie und ihren Bruder großzuziehen. Ihr Vater war als Reedereikaufmann tätig, zumindest bis zu dem Zeitpunkt, als er aufgrund seiner jüdischen Religion gekündigt wurde. Die Eltern von Marianne lebten in einer damals so genannten „privilegierten Mischehe“. Dieser Begriff bezeichnete ein Eheverhältnis, in dem einer der beiden Ehepartner aus nationalsozialistischer Perspektive „arischer“ Herkunft war, während dem anderen „jüdisches Blut“ zugeschrieben wurde.
Zu Kriegszeiten gehörten rassistisch Verfolgte, die in einer "Mischehe" lebten, zu den letzten, die deportiert wurden, was Marianne Wilkes Vater - so die Meinung der Tochter - das Leben rettete. Die Verfolgung ihrer Familie erschien Frau Wilke auch deswegen so absurd, weil ihr Vater sich selbst nicht als jüdisch ansah und diesen Glauben auch in keiner Weise versuchte an sie weiterzugeben.
Besonders in Erinnerung geblieben ist Marianne Wilke vor allem das Tempo, in dem sich die Stimmung gegen sie und ihre Familie wandte. Neben den anfänglichen Restriktionen sei die Reichspogromnacht ein Wendepunkt gewesen, an dem auch ihre Familie nach langer Verweigerung das erste Mal die Emigration in Betracht zog. Zwei ihrer Onkel, welche zu der Zeit im Israelitischen Krankenhaus in Hamburg tätig waren, wurden infolge der Pogrome verhaftet und in das Konzentrationslager Sachsenhausen deportiert. Von da an beschäftigten zwei Fragen die Familie. Kann es noch schlimmer werden? Und müssen wir weg aus Deutschland?
Mit Kriegsbeginn 1939 wurde diese Überlegung praktisch nichtig, da die Ausreise kaum noch möglich war. Die Lage ihrer Familie verschlimmerte sich weiter. Bereits 1938 war ein Gesetz in Kraft getreten, das jüdischen Mitbürgern den Besitz eines Radios versagte, Ausgehverbote ab 20 Uhr im Winter beziehungsweise 21 Uhr im Sommer verhängte und ihnen auch der Mieterschutz verweigert wurde. Marianne Wilke erinnerte sich daran, dass ihre Großeltern, die zu der Zeit mehr als 20 Jahre am Hellkamp wohnhaft gewesen waren, gezwungen wurden, ihre Wohnung zu verlassen und in ein „Judenhaus“ umzuziehen. Manchmal musste Marianne für sie einkaufen gehen und Besorgungen erledigen, was sie ungern tat, wie sie selbst sagt. Nicht etwa, weil sie ihren Großeltern nicht helfen wollte, sondern weil sie in jungen Jahren gezwungen war mit einer Lebensmittelkarte einkaufen zu gehen, über die ein großes „J“ für „Jude“ gestempelt war. Aufgrund dieser Tatsache versagten ihr viele Händler den Kauf ihrer Waren und einmal mehr wurde ihr bewusst, dass sie in einer Familie lebte, die unterdrückt und verfolgt wurde.
Marianne Wilke rührte am Ende das Publikum zu Tränen, als sie einen Appell an die Anwesenden richtete, sich gegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Verfolgung zu richten. Diesen Appell unterstrich sie mit einem Zitat der Band „Die Ärzte“: „Es ist nicht deine Schuld, dass die Welt ist wie sie ist. Es wäre nur deine Schuld wenn sie so bleibt“.
Anhand ihrer eigenen Geschichte machte sie dem Publikum die Absurdität der damaligen „Gesinnung“ mehr als deutlich und gab mit ihrem eigenen Engagement in der antifaschistischen Bewegung und ihrem Eintreten für die Rechte von Minderheiten ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie Widerstand auch heute noch aussehen kann und wie auch einzelne Personen viel bewirken können.
Sie selbst ist dafür ein Paradebeispiel. Neben der Tatsache, dass sie Trägerin des Bundesverdienstkreuzes ist, war sie daran beteiligt, Sinti und Roma in Schleswig-Holstein die Anerkennung als Minderheit zu ermöglichen und so einen Weg für staatliche Unterstützung zu öffnen. Dafür wurde sie vom Verband deutscher Sinti und Roma mit dem sogenannten „Meilenstein“ ausgezeichnet, der ihr persönlich deutlich mehr bedeute als das Bundesverdienstkreuz.
Auch die zahlreichen anwesenden Schülerinnen und Schüler schien Marianne Wilke mit ihrem Vortrag erreicht zu haben. Während des gesamten Vortrages war seitens der Schüler*innen nicht ein Gespräch untereinander auszumachen und nach anfänglicher Scheu trauten sich auch mehr und mehr Teilnehmer*innen Fragen zu stellen und am Ende auch, Fotos mit ihr und ihrem Mann zu machen. Interessiert betrachteten sie die mitgebrachten Lebensmittelkarten aus der damaligen Zeit und einen sogenannten Judenstern, ohne den vom NS-Regime als „Juden“ eingestufte Menschen ab 1942 nicht mehr in der Öffentlichkeit auftreten durften.
Für mich selbst war das Zeitzeugingespräch beeindruckend und ich bin dankbar, die Chance gehabt zu haben, daran teilzunehmen. Ich wuchs mit den Geschichten meiner Großeltern auf, welche selbst nicht verfolgt wurden. Besonders deswegen fand ich es interessant, die Gegenperspektive zu hören und mir so ein besseres Bild der damaligen Lebenssituation machen zu können. Respektabel finde ich, neben allen erbrachten und erwähnten Leistungen, die bereits für sich sprechen, ihr Engagement in der Nachkriegszeit, sei es für ehemals Verfolgte oder für Minderheiten. Wenige Menschen, die ich bisher treffen durfte, zeigen auch in einem so hohen Alter noch so viel Einsatz.
Bericht von Dominik Heitmann