08.08.2022 Blogbeiträge, Bericht

Begleite mich durch mein Jahr als Freiwilliger

Daniel Cartwright aus England war von August 2021 bis August 2022 Freiwilliger über die Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (ASF) in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme und bei der Solidarischen Hilfe im Alter in Hamburg. Hier berichtet er über seine Erfahrungen und gibt seiner Nachfolge ein paar Tipps.

TikTok

Von Anfang an konnte ich Teil des Teams sein, das den ersten TikTok-Account für eine KZ-Gedenkstätte ins Leben gerufen hat. Ein Highlight meines Freiwilligenjahres war es zu sehen, wie der Account angenommen wurde und ständig wuchs. Bislang haben wir mehr als 20.000 Follower, und unser beliebtestes Video wurde mehr als 2,7 Millionen Mal angesehen. Ich habe von einem der Guides gehört, dass Schulgruppen Fragen zu den TikToks gestellt haben und Familien haben gesagt, sie hätten sich dazu entschlossen, die Gedenkstätte zu besuchen, weil ihre Kinder die Videos gesehen hatten und die Stätte besuchen wollten, um mehr darüber zu erfahren.

Über den Account konnten wir auch mit anderen Gedenkstätten in Kontakt treten und nach Bergen-Belsen reisen, um mit den dortigen Freiwilligen gemeinsame Videos zu drehen. Eine besondere Kampagne wurde für den 27. Januar über TikTok organisiert, bei der andere Gedenkstätten unser Video als Grundlage für die Erzählung der Ereignisse an diesem Tag an ihren jeweiligen Standorten verwenden sollten. Die Gedenkstätten Dachau, Bergen-Belsen, Flossenbürg und Mauthausen nahmen daran teil.

Darüber hinaus hat der TikTok-Account auch einige Aufmerksamkeit in den Medien erlangt, sowohl in Printmedien als auch im Fernsehen, was es mir ermöglichte, mit einem breiteren Publikum über die Gedenkstätte zu sprechen. Die Aufmerksamkeit erstreckte sich auch auf Presseartikel in anderen Ländern wie Israel und Österreich, und ich war froh zu sehen, dass unsere Arbeit auch außerhalb von Deutschland Wirkung zeigte. Nebenbei bemerkt, war ich auch froh, dass ich nicht untertitelt wurde, wenn ich Deutsch sprach!

Der Link zum Profil: https://www.tiktok.com/@neuengamme.memorial

Gleichgewicht der Erwartungen 

Ich bin mit offenen Erwartungen in das Freiwilligenjahr und die Projekte gegangen. Trotz dieser offenen Erwartungen hat mich meine Arbeit in den Projekten immer wieder überrascht. Zum Beispiel war es überraschend, dass ich so viele Menschen erreichen konnte, und dass ich im Laufe des Jahres viele interessante Menschen aus der ganzen Welt kennen gelernt habe. Ich denke, dass es von Vorteil war, mit wenig spezifischen Erwartungen in das Jahr zu gehen, denn so konnte ich Dinge unvoreingenommen entdecken. Viele der Dinge, die ich dann tat, hatte ich vorher noch nie gemacht, und das ermöglichte mir, ständig zu lernen und mich auf eine Weise herauszufordern, die ich vorher nicht für möglich gehalten hätte.

Meine Nachfolge hat die Möglichkeit, die Arbeit des TikTok-Kontos fortzusetzen, allerdings nur, wenn die Person das möchte. Da man als Creator auf der Plattform sehr exponiert ist, bedeutet dies auch, dass man vielen negativen, oft persönlichen Kommentaren ausgesetzt ist. Deshalb würde ich von meiner Nachfolge nicht erwarten, dass die Person weiterhin TikTok-Videos macht, wenn sie sich dabei nicht wohl fühlt.

Interkulturelle und historische Dimension   

Das Erstellen von englischsprachigen Videos und Übersetzungen bedeutete, dass ich regelmäßig mein Heimatland im Hinterkopf hatte (und damit auch die Verbindung zwischen meinem Heimatland und Deutschland). Im Laufe der Monate wuchs mein Wissen über Deutschland, aber damit wuchs auch das Wissen über mein Heimatland. Ich glaube, das hat dazu geführt, dass ich weder das eine noch das andere isoliert sehe - wenn ich in Deutschland bin, bleibe ich jemand, der den größten Teil seines Lebens in Großbritannien verbracht hat, aber wenn ich Großbritannien betrachte, sehe ich es mit den Augen von jemandem, der in Deutschland lebt und in das deutsche Leben und die deutschen Denkweisen eingetaucht ist. 

Vielleicht sollte ich auch erwähnen, dass ich die ersten Monate meines Aufenthalts in Deutschland in Berlin verbracht habe, kurz vor Beginn meines Freiwilligendienstes. Das hat mir die Möglichkeit gegeben, die deutsche Hauptstadt in einer anderen Umgebung zu erkunden und in die Kultur, Sprache und Geschichte Deutschlands einzutauchen, bevor ich nach Hamburg zog und meinen Freiwilligendienst in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme und bei der Solidarischen Hilfe im Alter (SoliHilfe) begann.

Das Jahr gab mir die Möglichkeit, die Stadt Hamburg und die Region auf eine sinnvolle Weise kennen zu lernen. Meine Arbeit ermöglichte es mir, die Stadt aus mehreren Blickwinkeln zu betrachten und von Menschen aller Altersgruppen und Hintergründe etwas über die Geschichte und Kultur Hamburgs zu erfahren. Im Laufe des Jahres hatte ich auch die Möglichkeit, die Umgebung zu besuchen und verschiedene andere Orte in Norddeutschland aufzusuchen, die einen Bezug zu meiner Arbeit haben, z.B.: Kaltenkirchen, Wöbbelin, Bergen-Belsen, Schwerin und Ludwigslust. Das Kennenlernen der weiteren Region war sehr wichtig für das Verständnis der Geschichte und der Kultur der Stadt Hamburg.

Im Mai hatte ich die Gelegenheit, an der Jugendbegegnung des deutschen Bundestages in Berlin teilzunehmen. Dies ermöglichte es mir, meinen Blick auf Deutschland zu erweitern, mit Menschen zu sprechen, die im ganzen Land leben und arbeiten, und einen Einblick in das deutsche politische System zu gewinnen (was ich mit meinen eigenen Erfahrungen beim Besuch des britischen Parlaments vergleichen konnte). Das Thema der Jugendbegegnung war die Wannseekonferenz, und während der vier Tage, die ich dort verbrachte, konnte ich mich mit anderen jungen Menschen eingehend mit dieser Geschichte befassen, indem ich mir die Protokolle ansah, über die Teilnehmer recherchierte und die Stätte besuchte. Die Teilnehmenden waren alle in irgendeiner Weise in die Erinnerungsarbeit involviert, und deshalb war diese Erfahrung auch insofern wichtig, als ich die deutsche Erinnerungskultur auf eine neue Art und Weise und mit neuen Leuten erkunden konnte.

Während des ganzen Jahres war es schwer, die Präsenz der Geschichte in meinem täglichen Leben nicht zu bemerken, und daher ist es schwer, einen einzelnen Moment herauszugreifen, in dem die Präsenz der Geschichte besonders deutlich war. Ich könnte auf verschiedene Momente verweisen, wie z.B. die Gedenkveranstaltungen, an denen ich teilnehmen konnte und bei denen Überlebende und deren Angehörige anwesend waren, sowie der Kontakt, den ich im Rahmen meiner Arbeit bei der SoliHilfe mit Verfolgten des Nationalsozialismus hatte. Aber auch bei eher zufälligen Begegnungen, wie z.B. als ich eine amerikanische Besucherin interviewte, die die Gedenkstätte im Rahmen eines Ausflugs auf einem Kreuzfahrtschiff besuchte. Während unseres Gesprächs erwähnte sie, dass der Ort für sie eine besondere Bedeutung habe, da sie als Krankenschwester gearbeitet und sich persönlich um ehemalige KZ-Häftlinge gekümmert habe. Dies war nur eine von mehreren zufälligen Begegnungen, bei denen die Präsenz und Wirkung von Geschichte für mich auf eine Weise besonders real wurde, die ich nicht erwartet hätte.

Die Zukunft

Ich glaube, dass ich im Laufe des Jahres sowohl praktisch als auch persönlich gewachsen bin. Praktisch durch die Sprachkenntnisse, die ich entwickelt habe, die neuen Fähigkeiten, die ich erlernt habe (TikTok, Videobearbeitung usw.), sowie durch den Umgang mit allerlei neuem Papierkram. Ganz allgemein in meinem vertieften Geschichtswissen und in der Art und Weise, wie mich die Begegnungen mit den unterschiedlichsten Menschen im Rahmen meines Freiwilligendienstes bereichert haben. Ich hoffe, dass ich diese praktischen Fähigkeiten mitnehmen und in der Zukunft anwenden kann. Ich bin mir sicher, dass ich die Erfahrungen, die ich in den beiden Projekten gemacht habe, und die Begegnungen mit den Menschen, die ich auf diesem Weg getroffen habe, mitnehmen werde.