06.07.2018 Bericht

Auf Spurensuche: Recherchen in der eigenen Familie zu verfolgten und deportierten Sinti

Vom Hannoverschen Bahnhof wurden im Zeitraum von 1940 bis 1945 etwa 8000 Juden, Sinti und Roma aus Hamburg und Norddeutschland in Gettos, Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert. Auch zahlreiche Familienmitglieder von Beate Köhler und Nicole Mettbach waren unter den Deportierten. Beide stammen aus Sinti-Familien, die seit Generationen in Deutschland leben. Der Großteil ihrer Familien überlebte den Holocaust nicht.

Im Ökumenischen Forum sprachen die beiden Frauen am Dienstag, dem 3. Juli 2018, erstmals öffentlich über ihre Familiengeschichten und ihren persönlichen Umgang mit dieser Geschichte. Karin Heddinga (KZ-Gedenkstätte Neuengamme), die beide im Rahmen des Projektes „Transgenerationale Überlieferung von Geschichte“ bereits interviewt hatte, moderierte den Abend.

Bereits in ihrer Kindheit waren die Themen Holocaust, Krieg und Konzentrationslager Bestandteil des Familienalltags, erzählte Nicole Mettbach. Zu besonderen Anlässen sprach die Familie viel über verstorbene Angehörige. Vor allem ihr Großvater sprach über Erlebnisse aus den Konzentrationslagern und die Schicksale der verstorbenen Familienmitglieder. Diese Momente fielen Frau Mettbach besonders schwer.

Beate Köhlers Mutter sprach mit ihr von Kindheit an über ihre eigene und die Verfolgungsgeschichte ihrer Familie. Mit nur drei Jahren war Beate Köhlers Mutter ins Arbeitslager Belzec deportiert worden. Sie überlebte mit ihren Geschwistern. Alle anderen Familienangehörigen überlebten den Holocaust nicht.

Beate Köhler begann mit ihrer Tochter in Archiven zu recherchieren, um zunächst ihrer Mutter den Wunsch nach einem Bild ihrer eigenen Mutter, die 1944 im KZ Ravensbrück umgekommen war, zu erfüllen. Es folgte eine jahrelange Recherche nach Dokumenten in unzähligen Archiven, die noch andauert. Ein Foto ließ sich jedoch nicht finden.

Trotz des Wissens um die Geschichte ihrer Familie war ihr das Ausmaß der Verfolgung und Diskriminierung nicht bewusst, erzählte Frau Köhler. Trauer, Wut und Sprachlosigkeit prägten ihren Rechercheprozess. Auf die Frage, welche Geschichte für sie besonders tragisch sei, antwortete sie zunächst mit „Alles“. Sie erzählte dann jedoch von der Suche nach ihrem verschollen geglaubten Onkel. Für sie war es kaum vorstellbar, wie es für ihre Großmutter gewesen sein muss, ihr eigenes Kind zu verlieren.

Die Beantragung der Verlängerung der Ruhezeit des Familiengrabes war der Anstoß für Frau Mettbachs Recherchen in Archiven. Die detaillierten Berichte von Angehörigen in ihren Anträgen auf „Wiedergutmachung“ zu lesen, machte sie wütend. Besonders die bürokratische Sprache der Behörden ließ sie nicht los. Kaum zu ertragen waren für sie die personellen Kontinuitäten und die damit einhergehende Diskriminierung bei der Beantragung von Wiedergutmachungsansprüchen, vor allem der ihrer Großeltern.

Antiziganismus ist bis heute präsent. So erzählte Frau Mettbach, dass sie in ihrer Kindheit glaubte, es sei normal, als „Zigeunerkind“ stigmatisiert zu werden. Aus den Recherchen und den eigenen negativen Erfahrungen schöpft sie jedoch die Kraft und den Mut, über ihre Familiengeschichte zu sprechen. Die Verfolgung und Deportation der Sinti und Roma ist bis heute in der Öffentlichkeit ein eher untergeordnetes Thema. Im Schulunterricht wird es kaum oder gar nicht besprochen. Ebenso fehlt den Angehörigen schlichtweg ein Ort zum Trauern. Die Recherchen und auch die öffentliche Auseinandersetzung mit ihrer Geschichte sehen daher sowohl Beate Köhler als auch Nicole Mettbach als ihren persönlichen Raum des Gedenkens.

Bericht von Lisa Herbst (wissenschaftliche Volontärin)