06.02.2020 Zeitzeugengespräch
Am 30. Januar 2020 lud die KZ-Gedenkstätte Neuengamme zusammen mit der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft im Rahmen der diesjährigen Rathausausstellung „Überlebt! Und nun? NS-Verfolgte in Hamburg nach ihrer Befreiung" zum Gespräch mit drei Zeitzeuginnen in das Curio-Haus.
Der große Andrang zeugte vom großen Interesse. Ulrike Jensen, Leiterin der Jugendbildung der KZ-Gedenkstätte, die die Veranstaltung moderierte, äußerte sich sehr erfreut über den großen Zuspruch. Auf dem Podium saßen Marianne Wilke, die im nationalsozialistischen System als „Halbjüdin“ galt, Frieda Larsen, die als sogenannter „Mischling“ kategorisiert wurde und Ilse Jacob, die Tochter kommunistischer Eltern ist, die im antifaschistischen Widerstand aktiv waren. In einer ersten Runde gaben alle drei einen kurzen Einblick in die Verfolgungsgeschichte, die sie oder ihre Familienmitglieder erlebten.
Marianne Wilke berichtete von antisemitischen Äußerungen in einem Lebensmittelgeschäft, in dem sie mit Lebensmittelmarken Besorgungen erledigen wollte. Sie wurde aufgrund des auf den Karten aufgedruckten „J“ nicht bedient. Ihre Lehrerin hingegen sorgte durch die Nichtmeldung der sogenannten „Halbjüdin“ in ihrer Klasse dafür, dass Marianne die Schule bis 1943 besuchen konnte, obwohl sie dies aufgrund der nationalsozialistischen Rassengesetze nicht gedurft hätte.
Von der Verfolgungsgeschichte Ihrer Familie berichtete auch Frieda Larsen. Sie galt als „Mischling“, da ihr Vater der Gruppe der Sinti zugerechnet wurde, nicht aber ihre Mutter. Die Familie wurde gezwungen „sesshaft“ zu werden und versuchte sich unauffällig in die neue Nachbarschaft einzugliedern, um als Sinti-Familie keine weiteren Diskriminierungen zu erfahren.
Ilse Jacobs Vater Franz Jacob war bis 1933 Bürgerschaftsabgeordneter für die KPD in Hamburg. 1942 floh er nach Berlin, wo er seine illegalen Aktivitäten fortsetzte und 1944 schließlich verhaftet und hingerichtet wurde. Seine damals eineinhalb jährige Tochter Ilse sah er nur ein einziges Mal 1944. Ilse Jacobs Mutter kehrte kurz nach Kriegsende zu ihren Töchtern zurück.
Der Schwerpunkt des Abends lag, thematisch an der derzeitigen Rathausausstellung orientiert, auf der Zeit nach 1945. Jede der drei Frauen berichtete von fortdauernden gesellschaftlichen Diskriminierungen und auch staatlicher Verfolgung.
Frieda Larsen berichtete davon, dass ihre Familie nach dem Krieg keine Zeit und Kraft dafür hatte, die Geschehnisse, die ihr während des Nationalsozialismus widerfahren waren, aufzuarbeiten, da die Diskriminierungen gegen Sinti und Roma auch in der deutschen Nachkriegsgesellschaft nahtlos weitergingen. Es dauerte Jahrzehnte, bis sie als Opfergruppe anerkannt wurden.
Marianne Wilke berichtete davon, dass aufgrund der Verfolgungen im nationalsozialistischen Deutschland, in ihr ein tiefes Misstrauen gegen Erwachsene entstanden war, worin ihr Frieda Larsen beipflichtete.
Ilse Jacobs Mutter hatte als Lehrerin und überzeugte Kommunistin mit Widrigkeiten im Nachkriegsberufsleben zu kämpfen, konnte einem Berufsverbot jedoch entgehen. Auch sie selbst berichtete, vom Hamburger Verfassungsschutz unter anderem wegen einer Teilnahme am Bundeskongress der „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der AntifaschistInnen“ (VVN-BdA) bescheinigt bekommen zu haben, nicht auf dem Boden der Freiheitlich-Demokratischen Grundordnung zu stehen.
Verärgert zeigten sich die drei über die Aberkennung der Gemeinnützigkeit der VVN-BdA. Sie riefen die Zuhörenden dazu auf, stets wachsam und kritisch zu bleiben und Ungerechtigkeiten frühzeitig und entschieden entgegen zu treten.
Trotz der Unterschiede der drei Frauen, die u.a. aus ihren unterschiedlichen familiären Hintergründen resultieren, wurden die Gemeinsamkeiten, die sich beispielsweise in ihren Schlüssen aus der Verfolgungsgeschichte und ihrer nach wie vor kämpferischen und widerständigen Grundhaltung zeigten, beeindruckend deutlich.
Bastian Satthoff