20.04.2022 Archivmeldung

136 Briefe aus der Haft

Als Eberhard Kirst mit seiner Frau im März 2022 in die KZ-Gedenkstätte Neuengamme reiste, hatte er Unterlagen von seinem Vater Herbert Kirst dabei.

Herbert Kirst hat eine erstaunliche Geschichte hinter sich. 1915 in eine politisch kommunistisch geprägte Familie geboren, trat auch er in die KPD ein und war in deren Jugendorganisationen aktiv. Durch eine Verwechslung wurde er 1931 inhaftiert, jedoch nach wenigen Monaten wieder freigelassen. Doch spätestens mit dem 30. Januar 1933 änderte sich das Leben der Familie Kirst drastisch. Sie steht exemplarisch für das Schicksal so vieler anderer Familien, die der politischen Verfolgung durch die Nationalsozialisten ausgesetzt war.

1934 wurde der Vater Bernhardt Kirst aus politischen Gründen zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Auch dessen Frau, die Mutter von Herbert Kirst, war in dieser Zeit mehrfach in Untersuchungshaft durch die Gestapo. Auch Herbert Kirst Bruder Erwin wurde zu 6 Monaten Gefängnis verurteilt. Für Herbert Kirst dauerte die Inhaftierung und Verfolgung noch länger. Er verbrachte fast die komplette Zeit der nationalsozialistischen Diktatur in Gefangenschaft. Im Dezember 1933 wurde er wegen Fortführung des Kommunistischen Jugendverbandes verhaftet und nach einem Jugendprozess zu einem Jahr Freiheitsstrafe verurteilt. Doch seine politischen Überzeugungen wollte er auch nach seiner Freilassung nicht aufgeben.

1935 emigrierte er nach Tschechien und engagierte sich dort im Widerstand des Kommunistischen Jugendverbandes als Kurier für die Strecke Berlin-Prag. Auf eben jener Strecke wurde er am Bahnhof Chemnitz am 27. Juli 1936 erneut verhaftet und wartete in den Gefängnissen Berlin Columbiahaus und Berlin Moabit über ein Jahr auf seinen Prozess wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“. 

Verurteilt wurde er zu 5 Jahren Zuchthaus, die er zuerst in Brandenburg-Görden und dann im Lager Amberg verbüßte. Im Dezember 1938 wurde er dann in das KZ Aschendorfer Moor im Emsland deportiert. Es folgte im Oktober 1940 eine Verlegung ins Zuchthaus Sonnenburg und eine anschließende „Schutzhaft“ in Berlin.

Anfang Januar 1942 wurde Kirst in das KZ Neuengamme eingeliefert und erhielt die Häftlingsnummer 6965. Während der Arbeit im so genannten „Dachdeckerkommando“ wurde er schwer verletzt und zog sich einen Schenkelhalsbruch zu. Dank der Hilfe politischer Mithäftlinge überlebte er und wurde fortan als Laborant im Krankenrevier eingesetzt. Eine medizinische Ausbildung hatte er nicht – Kirst war Elektrotechniker. Dennoch weiß der damalige Mithäftling Günther Wackernagel zu berichten, das Herbert Kirst zu jenen gehörte, die im Krankenrevier so gut sie konnten zum Wohle ihrer Leidensgenossen arbeiteten.

In all der Zeit, von 1933 bis 1944 schrieb Herbert Kirst Briefe aus der Gefangenschaft an seine Familie. Von den 182 im Familien-Nachlass gesammelten Briefen, sind 136 von ihm. 56 davon aus dem KZ Neuengamme – und das sind nur jene Briefe, die auch bei seiner Familie angekommen sind. Nach Zensur und Postkontrolle der SS wurden Briefe von Häftlingen häufig gar nicht erst verschickt.

Ende 1944 wurde Kirst für die Wehrmacht zwangsrekrutiert und mit anderen Häftlingen in das Strafbataillon der Dirlewanger Formation gesteckt. Hier enden die Briefe an seine Familie. Bis Kriegsende musste er den Rückzug der Wehrmacht in der Slowakei decken und geriet dabei Anfang Mai 1945 in russische Kriegsgefangenschaft. Erst im August 1945 erlangte er seine Freiheit zurück, gezeichnet von Tuberkulose und anderen Krankheiten aus seiner Haft.

Sein politisches Engagement war ungebrochen. Im November 1945 arbeitete er für die Landesregierung Sachsen als Technischer Leiter der Fernsprechabteilung. Seine Dokumente aus der Nachkriegszeit und der DDR zeichnen einen sowohl ambitionierten Mann, aber auch die langen Schatten durch die Haft mit Krankheiten, die nie ganz verschwinden konnten. Zur Einweihung des Mahnmals in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme am 7. November 1965 reiste er mit seinem Sohn aus der DDR nach Hamburg.

In dem nun der Gedenkstätte überreichten Nachlass sind 95 kleine Schwarzweißfotos von Gedenkveranstaltungen in Neuengamme und dem Ehrenfriedhof für die Cap Arcona Opfer in Neustadt enthalten. Die Fotos und Briefe sind für unser Archiv eine enorme Bereicherung, an der wir noch einige Zeit sitzen werden, um sie zu digitalisieren und die handschriftlichen Briefe zu transkribieren. Es ist wunderbar, über diese historischen Dokumente einen kleinen Eindruck in eine so komplexe und lange Haftgeschichte zu erhalten.

Egal ob ein großer oder ein kleiner Nachlass, das Archiv der KZ-Gedenkstätte Neuengamme ist für jedes Dokument zu ehemaligen Häftlingen dankbar. Wer also auf der einen Seite über Dokumente verfügt, die einen Blick in die Geschichte des Lagers geben, oder auf der anderen Seite von uns mehr über die eigene Familiengeschichte erfahren möchte, kann sich gern an unsere Archivarinnen und Archivare wenden.

[Text: Franciska Henning]