NS-Verfolgte nach der Befreiung : Ausgrenzungserfahrungen und Neubeginn

Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung, volume 3
publié par: Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte zur Erinnerung an die Opfer der NS-Verbrechen
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Synthèse

Gero Fedtke

»Der lange Weg nach Hause«. Ein Bericht über die Repatriierung von Ilmenau, Thüringen, nach Presnogor’kovka, Kasachstan, 1945/46

Sowjetische Staatsangehörige, die als Kriegsgefangene oder Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter nach Deutschland verschleppt worden waren, mussten nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in die Sowjetunion zurückkehren – ob sie wollten oder nicht. Viele erlebten in der Heimat erneut Unfreiheit und Zwang. Zugleich mussten sie mit dem Makel leben, pauschal der Kollaboration mit dem NS-Staat verdächtigt zu werden. Sie wurden so »Opfer zweier Diktaturen« (Pavel Poljan). Der Rotarmist, Lehrer und Autor Nikolaj Lavrinov hat seine Rückkehr in dem 1997 publizierten Werk »Der lange Weg nach Hause. Tagebuchaufzeichnungen« beschrieben. Diese Memoiren in Tagebuchform ermöglichen es, Erfahrungen und Handlungsmöglichkeiten aus der Perspektive eines Repatrianten zu ergründen sowie dessen Selbstwahrnehmung und Selbstdarstellung nachzuvollziehen. Lavrinov ließe sich – würde nur sein Schicksal zwischen 1941 und 1946 sowie in den unmittelbar folgenden Jahren betrachtet – als Opfer der nationalsozialistischen wie der stalinistischen Diktatur kategorisieren. Er präsentiert sich jedoch in seinen Aufzeichnungen explizit nicht als Opfer des Stalinismus, sondern als russischer und sowjetischer Patriot, der die Einschränkungen des Individuums zugunsten des Kollektivs akzeptiert und seinen Platz in diesem Kollektiv einnimmt. Seine grundsätzliche Zustimmung bedeutete allerdings nicht, dass Lavrinov alles für richtig hielt und guthieß, was der Staat tat – insbesondere nicht, was ihn selbst betraf. Lavrinov ist sicherlich kein Einzelfall, doch hat sich die Forschung bislang nicht für Positionen wie die seine interessiert. Perspektiven wie seine machen die Einordnung der sowjetischen Kriegsgefangenen sowie Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter als »Opfer zweier Diktaturen« zwar nicht obsolet, doch sollte sie im Hinblick auf die individuellen Perspektiven und die Wahrnehmung der Betroffenen stärker differenziert werden.

 

Johanna Kootz

Die Rückkehr italienischer Frauen aus dem Konzentrationslager Ravensbrück

Seit dem 9. September 1943, dem Beginn der deutschen Besatzung Italiens, wurden 32 452 Italienerinnen und Italiener als politisch und »rassisch« Verfolgte in deutsche Konzentrationslager deportiert. Mindestens 1000 Frauen wurden in Ravensbrück inhaftiert. Für die Repatriierung der Überlebenden hatte Italien keine angemessenen Vorkehrungen getroffen. Auch die Siegermächte unternahmen nichts, um die baldige Heimkehr der Bürgerinnen des Landes, das der engste Verbündete des NS-Regimes gewesen war, zu ermöglichen. Ausgehend von den Berichten der Zeitzeuginnen werden die physischen und psychischen Herausforderungen ihres langen Heimwegs dargestellt. Die Frauen kehrten in ein wirtschaftlich ruiniertes und politisch gespaltenes Land zurück. Anders als für Hunderttausende Kriegsgefangene und Militärinternierte gab es für sie keine geregelten Anrechte auf staatliche Unterstützung. Die Nachkriegsgesellschaft erwartete von ihnen die Wiedereingliederung in das »normale« Leben, in dem die traditionelle geschlechtsbezogene Rollenverteilung als Garant für den sozialen Frieden galt. Das allgemeine Desinteresse an ihrem Schicksal und die Verletzung ihrer Würde durch die Verbreitung sexuell konnotierter Unterstellungen hatten zur Folge, dass die Heimgekehrten es jahrelang vermieden, über ihre Erfahrungen von Deportation und KZ-Haft öffentlich zu sprechen.

 

Sarah Grandke

Moving memories – memories on the move? Erinnerungsinitiativen von Displaced Persons in Flossenbürg 1946/47

Die vornehmlich nicht jüdischen, polnischen DPs in dem von April 1946 bis November 1947 in Flossenbürg in der Oberpfalz auf dem Gelände des vormaligen Konzentrationslagers bestehenden »Camp Sikorski« können wie unter einem Brennglas als Akteurinnen und Akteure transnationaler, erinnerungskultureller Verflechtungsprozesse der unmittelbaren Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg betrachtet werden. Sie bildeten eine Erinnerungs- und Schicksalsgemeinschaft, die in mehreren »Wartesälen« ausharren musste und 1946 durch die US-Militärregierung unfreiwillig aus Oberösterreich in die bayerische Oberpfalz verbracht wurde. Trotz und wegen der Sprachbarrieren, ihrer marginalisierten Position und ihres begrenzten politischen Einflusses aufgrund des DP-Status sowie Ressentiments sowohl vonseiten der Ortsansässigen als auch der Alliierten bauten die Displaced Persons vielfältige Netzwerke auf, nutzten Handlungsmöglichkeiten und wurden tatkräftige Akteurinnen und Akteure. Sie errichteten in Flossenbürg eine der ersten KZGedenkanlagen im deutschsprachigen Raum und das, obwohl ein Großteil der Beteiligten keine Verfolgungserfahrungen im Flossenbürger KZ-Komplex hatte. Vielmehr handelte es sich um Überlebende verschiedener Konzentrationslager sowie Handelnde weiterer Gruppen, die zufällig und unfreiwillig vor Ort waren und auch nicht auf Dauer zu bleiben beabsichtigten. Die nicht immer konfliktfreie Kooperation involvierte auch andere DPs, vor allem aus der Ukraine und dem Baltikum, sowie deutsche ehemalige Verfolgte und bayerische Amtsträger. Die Rekonstruktion der Wege der DPs vor und nach ihrer Zeit in Flossenbürg zeigt das erinnerungskulturelle »Gepäck« und die Erfahrungen, die sie aus bereits vollzogenen Gedenkinitiativen in Österreich in die Oberpfalz mitbrachten und die in ein transnationales Gedenken vor Ort mündeten. Der Aufsatz skizziert dabei nicht nur ein polnisch-deutsch-österreichisches Gedenken ehemaliger KZ-Häftlinge, sondern mit Blick auf die weiteren Emigrationswege auch die Geschichte eines globalen Transfers bis hin nach Australien.

 

Lennart Onken

»Die Spuren der Sklavenherrschaft abgeworfen«. Jüdische Selbstorganisation in der britischen Besatzungszone Deutschlands

Die jüdischen Überlebenden verfügten in der britischen Besatzungszone Deutschlands über einen hohen Organisationsgrad. Ihre Organisierung war dabei direktes Resultat der britischen Besatzungspolitik. Die Weigerung der britischen Militärregierung, Jüdinnen und Juden als eigenständige Verfolgtengruppe anzuerkennen, hatte massive Auswirkungen auf ihre Lebensumstände und setzte die Rahmenbedingungen für die rasch einsetzenden Prozesse des Sich-Organisierens der befreiten jüdischen Überlebenden. Sie gründeten Gemeinden und Komitees, die ihnen materielle Unterstützung und geistige Heimat boten. Diese lokalen Organisationen schlossen sich auf überregionaler Ebene zum »Zentralkomitee der befreiten Juden in der britischen Zone« zusammen, das die Interessen aller Jüdinnen und Juden unabhängig von ihrer Herkunft bündelte und einen dezidiert politischen Anspruch verfolgte. Das Zentralkomitee entwickelte sich innerhalb kurzer Zeit zu einer schlagkräftigen Organisation, die das jüdische Leben in der britischen Besatzungszone und darüber hinaus maßgeblich prägte. Der vorliegende Aufsatz nimmt die Praxis der Selbstorganisation der jüdischen Überlebenden in den Blick. Hierfür untersucht er die unterschiedlichen Organisationen unter den Aspekten ihrer Struktur, ihrer Ziele, ihres organisatorischen Wandels, ihrer Beziehungen zueinander sowie ihrer Konflikte mit der britischen Besatzungsmacht. Die Selbstorganisation der befreiten Jüdinnen und Juden wird dabei als Schlüssel zum Verständnis der komplexen Situation der jüdischen Überlebenden nach ihrer Befreiung begriffen. Sie ermöglichte es ihnen, sich allen internen Differenzen zum Trotz als Individuen wie auch als Kollektiv neu und unabhängig zu konstituieren.

 

Nadine Jenke

Eine Episode zwischen DP-Camp und Emigration? Zur Rolle der Zentralkomitees der befreiten Juden in der britischen und in der USamerikanischen Besatzungszone

Deutschlands bei der frühen Strafverfolgung von NS-Verbrechen NS-Verfolgte waren zentrale Akteurinnen und Akteuren in der Strafverfolgung nationalsozialistischer Verbrechen. Im Zentrum des Aufsatzes steht die Suche nach Zeuginnen und Zeugen durch die Zentralkomitees der befreiten Juden in der britischen und in der US-amerikanischen Besatzungszone Deutschlands von 1945 bis 1951. Beide Verbände standen als überregionale Interessenvertretungen in direktem Kontakt zu den einzelnen jüdischen Komitees – und im Fall des Zentralkomitees in der britischen Besatzungszone auch zu den jüdischen Gemeinden. Dieser breite Zugang zu Überlebenden der NS-Verfolgung bildete das Fundament für eine systematische Zeugensuche. Durch Kooperationen miteinander sowie mit anderen, vor allem als jüdisch und als politisch Verfolgten des NS-Regimes bzw. ihren institutionellen Vertretungen, entstanden zudem netzwerkartige Austauschbeziehungen über die Besatzungszonen hinweg. Auf diese Weise gelang es den Zentralkomitees, dazu beizutragen, relevante Lücken für eine systematische Strafverfolgung insbesondere in der britischen und in der US-amerikanischen Besatzungszone Deutschlands zu schließen. Gleichwohl engte der nachlassende Strafverfolgungswille deutscher und alliierter Stellen ab Ende der 1940er-Jahre die Handlungsmöglichkeiten der Verbände ein. Nachdem ihr Hauptanliegen der Betreuung der Displaced Persons weitgehend erfüllt war, stellten die beiden Zentralkomitees 1950 bzw. 1951 ihre Arbeit ein. Weitere Auflösungen von Verbänden und das Herausdrängen ehemals Verfolgter aus öffentlichen Positionen führten schließlich zu einem Einflussverlust der Ermittlungsnetzwerke von NS-Verfolgten.

 

Pavla Plachá

Tschechische ehemalige Häftlinge des Frauen-Konzentrationslagers Ravensbrück in der Nachkriegszeit. Möglichkeiten und Grenzen ihres politischen Engagements

Der Aufsatz fokussiert auf die Gruppe der in der Nachkriegszeit gesellschaftlich engagierten Tschechinnen, die zuvor im Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück inhaftiert waren. Die Kriegs- und Hafterfahrung, oft verbunden mit dem Verlust geliebter Menschen, war die gemeinsame Basis dieser Frauen. Sie prägte ihre Ansichten und Stellungnahmen und stärkte sie in der Überzeugung, dass es sinnvoll sei, für eine »bessere Welt zu kämpfen«. Im Jahr 1946 entstand in der Tschechoslowakei die »Vereinigung ehemaliger politischer Gefangener – Frauen von Ravensbrück«, die sich ebenso »den Kampf gegen den Faschismus« wie »den  Staatsaufbau und die Staatsverteidigung im Geiste des nationalen Kampfes um die Befreiung und um die Volksdemokratie« und »die Unterstützung der internationalen Verbundenheit« zum Ziel setzte. Wie sich aber bald zeigte, wurde die öffentlich proklamierte Einheit ihrer Mitglieder nicht Wirklichkeit. In der Praxis überdauerten alte Konflikte aus der Zeit der KZ-Haft, die sich unter der gesellschaftspolitischen Entwicklung der Tschechoslowakei und Europas zuspitzten. Beschleunigt wurde dieser Prozess durch die Machtübernahme der Kommunistischen Partei im Februar 1948, die die Gräben zwischen den Repräsentantinnen verschiedener Haltungen unüberwindbar vertiefte. Ende der 1940er- / Anfang der 1950er-Jahre wurden einige bis dahin öffentlich engagierte »Ravensbrückerinnen« nun von dem kommunistischen Regime verfolgt. Einigen gelang es, der Verfolgung durch die Flucht ins Exil zu entkommen, andere mussten erneut ins Gefängnis. Danach standen die politisch »auf Linie gebrachten« Häftlingsverbände nunmehr fest an der Seite des neuen kommunistischen Regimes.

 

Sharon Geva

Ghetto Fighters, Mothers, Documenters. Female Holocaust Survivors in Israel

Women survivors make up a large and highly diversified group in Israel. This article focuses on three central aspects that characterized this group in the early years and shows that these women were active, dynamic, and enterprising. Their activities furthered the core values of Israeli society, and all of their work was of national significance. The previous generation of Holocaust and Israeli social researchers described the 1950s as an era of silence, claiming that Holocaust survivors were unwilling to talk about their past. But women survivors formed a prominent and active group in every respect from the very beginning. Investigating their visibility from a gender perspective sheds additional light on this point. The article demonstrates how important it is to consider the role of women while researching Holocaust survivors both in Israel and in other societies and places.

 

Jens Binner

Stigmatisierung als biografische Konstante. Repatriantinnen und Repatrianten in der Sowjetunion nach 1945

Die Repatriierung in die Sowjetunion nach Ende des Zweiten Weltkrieges war für die davon betroffenen Menschen von den Rahmenbedingungen der spätstalinistischen Diktatur bestimmt. Aber die bis heute häufig anzutreffende Vorstellung, dass alle Repatriierten nach ihrer Rückkehr in den Lagern des GULag inhaftiert wurden, ist unzutreffend und lenkt von den wahren Benachteiligungen der Rückkehrerinnen und Rückkehrer ab. Diese lagen vielmehr in einem umfassenden Prozess der unsichtbaren und nicht fassbaren Diskriminierung, die allein darin begründet lag, dass sie eine Zeitlang außerhalb der Grenzen der Sowjetunion zugebracht hatten. Verhinderte Karrieren und ein allgemeines Klima des Misstrauens ihnen gegenüber führten zur lebenslangen Schlechterstellung und der Nichtwahrnehmung ihrer spezifischen Lebensgeschichten.

 

Christine Eckel

Die Anerkennung ehemaliger KZ-Häftlinge im Kontext staatlicher Erinnerungspolitik in Frankreich

Bis zum Rückzug der deutschen Truppen im Sommer 1944 wurden aus Frankreich über 165 000 Personen in Konzentrations- und Vernichtungslager sowie Haftanstalten im Deutschen Reich verschleppt. Neben Jüdinnen und Juden waren politische Gegnerinnen und Gegner betroffen, aber auch Personen, die bei Massenverhaftungen und Razzien ergriffen worden waren oder die sich in französischer Haft befunden hatten. Die Vielzahl unterschiedlicher Deportiertengruppen und damit verbundener Verhaftungskontexte fand nur unzureichend Entsprechung in den erinnerungspolitischen Bestrebungen des gaullistisch und kommunistisch geprägten Nachkriegsfrankreich. In Abgrenzung von dem mit dem NSStaat kollaborierenden Vichy-Regime stellte die Résistance den bestimmenden und integrierenden Bezugspunkt dar. Unter diesen Voraussetzungen stießen ehemalige KZ-Häftlinge bei ihren Anträgen auf Anerkennung auf erhebliche Probleme, wie Fallbeispiele verdeutlichen. Denn die beiden ab 1948 gesetzlich vorgegebenen Kategorien déporté résistant und déporté politique bildeten die vielfältigen Erfahrungen von Verfolgung, Haft und Deportation nur ungenügend ab, sie verstärkten zugleich ein dichotomes Bild von »Helden« und »Opfern«, das bis in die Gegenwart wirkt.

 

Claudia Bade

»Man war auch nach 1945 noch eine Ausnahme.« Akteure und Akteurinnen des Internationalen Sozialistischen Kampfbundes (ISK) nach der Befreiung

Der Internationale Sozialistische Kampfbund war eine kleine linkssozialistische Gruppierung, deren Mitglieder nach 1933 zum größten Teil aktiven Widerstand gegen den Nationalsozialismus leisteten. Viele mussten aus Deutschland fliehen. Der Aufsatz geht der Frage nach, wie die Mitglieder des ISK die Befreiung 1945 erlebten und welche Aushandlungsprozesse sie nach den Jahren des NS-Terrors führten. Sofort nach der Befreiung wurden aus den Verfolgten wieder politische Akteure und Akteurinnen; die meisten traten später der SPD bei. Die Gruppenmitglieder unterstützten sich, wo sie konnten, und versuchten, ihre Erfahrungen aus Weimarer Republik, Exil und Widerstand in den Wiederaufbau der Gesellschaft einzubringen. Allerdings erwiesen sich die politischen und sozialen Interaktionen vielfach als konfliktbeladen: Die Zusammenarbeit mit den alliierten Militärregierungen erlebten die früheren ISK-Mitglieder oft als schwierig, und auch der Übergang in die wiedergegründete SPD verlief für sie nicht immer reibungslos. Durch manche Begegnung mit Angehörigen der früheren »Volksgemeinschaft« erfuhren sie weiterhin Ablehnung. Schließlich stellte sich eine große Enttäuschung darüber ein, dass zahlreiche NS Belastete in Unternehmen und Behörden verblieben. Das Sprechen über traumatisierende Erlebnisse während der NS-Diktatur gelang außerhalb der eigenen Gruppe teils erst nach Jahrzehnten.

 

Yvonne Robel

Erfahrung(en) eines Neubeginns? Sintize und Sinti, Romnja und Roma in der frühen Nachkriegszeit in Hamburg

Der Aufsatz thematisiert die lokalen Rahmenbedingungen, die das Leben von Sintize und Sinti und Romnja und Roma bis Mitte der 1950er-Jahre prägten. Am Beispiel Hamburgs wird diskutiert, ob die direkte Nachkriegszeit für Angehörige der Minderheit Chancen eines Neubeginns bot oder ob Kontinuitäten der Ausgrenzung überwogen. Einblicke in Lebens- und Wohnbedingungen von Betroffenen, in Reaktionen von Anwohnerinnen und Anwohnern auf den »Zuzug« von Sintize und Sinti oder Romnja und Roma sowie in das Handeln der britischen Besatzungsmacht, der Behörden und der städtischen Hilfsstrukturen zeigen eine hohe Persistenz antiziganistischer Praktiken. Als entscheidend erweisen sich hierbei lokale Dynamiken sowie die beteiligten Akteurinnen und Akteure, die weitaus stärker das Leben von Sintize und Sinti und Romnja und Roma bestimmten als zentrale Vorgaben. Sie standen den Bemühungen der Betroffenen um ein Fußfassen nach dem Krieg, um die Anerkennung ihres Verfolgtenstatus und um Hilfe sowie Entschädigung als teils unüberwindliche Hindernisse entgegen. Das Erleben eines »Neubeginns« seit 1945 war unter diesen Bedingungen nur ein »flüchtiger Moment«.

 

Laura Hankeln

Antiziganistische Kontinuitäten in Baden-Württemberg. Die Rolle der Kriminalpolizei in der Entschädigungspraxis von Sintize und Sinti sowie Romnja und Roma

In die Betreuungspraxis von Überlebenden der NS-Verbrechen war auf dem Gebiet des späteren Bundeslandes Baden-Württemberg bereits im Sommer 1945 die Kriminalpolizei mit Recherchen zu Antragstellerinnen und Antragstellern einbezogen. Von den Ermittlungen waren häufig Sintize und Sinti sowie Romnja und Roma betroffen, die trotz ihrer Verfolgung im Nationalsozialismus weiterhin kriminalisiert wurden. Die Polizei griff hierbei auf bestehende Karteien zur Minderheit zurück, baute sie aus und nutzte sie behörden- und länderübergreifend. Im Rahmen des Erlasses 19 des württembergisch-badischen Justizministeriums war die Kriminalpolizei von 1950 bis 1954 mit dem Landesamt für Kriminalerkennungsdienst und Polizeistatistik (und in seiner Nachfolge dem Landeskriminalamt) in Stuttgart fest in die Entschädigungsverfahren eingebunden. Doch auch nach Aufhebung des Erlasses 19 im Jahr 1954 blieb die Kriminalpolizei eine wichtige Ansprechpartnerin für die Entschädigungsbehörden – zulasten der Minderheit. Auf Grundlage von Entschädigungsakten aus den Abteilungen Karlsruhe und Stuttgart des Landesarchivs Baden-Württemberg werden neue Erkenntnisse zur Rolle der Kriminalpolizei in den baden-württembergischen Entschädigungsverfahren von Sintize und Sinti sowie Romnja und Roma vorgestellt.

 

Andreas Kranebitter und Dagmar Lieske

Die zweite Stigmatisierung. »Asoziale« und »Berufsverbrecher« als NS-Opfer in Westdeutschland und in Österreich nach 1945

Der NS-Staat grenzte Menschen als »asozial« oder »kriminell« aus und sperrte sie in den Konzentrationslagern weg, wo sie einen schwarzen bzw. grünen Winkel tragen mussten. Auch nach der Befreiung kam es in den deutschen Nachkriegsgesellschaften sowie in Österreich zu einer sozialen Ausgrenzung dieser Verfolgten. Sie implizierte spätestens ab den 1950er-Jahren sowohl den Ausschluss aus der materiellen Entschädigung als auch aus der Gedenkkultur insgesamt, wie an Beispielen aus der Bundesrepublik und aus Österreich gezeigt wird. Diese »zweite Stigmatisierung« hat bis heute gravierende Folgen für die Erinnerungskultur und die Nachfahren dieser Opfer des Nationalsozialismus. Welchen Weg Deutschland und Österreich in Bezug auf ihre Anerkennung als NS-Opfer in Zukunft beschreiten werden, hängt von vielen Faktoren ab, nicht zuletzt von der wissenschaftlichen Thematisierung unsichtbar gemachter Opfergeschichten.

 

Détails

Référence
498
ISBN
978-3-8353-5263-6
Année de parution
2022
Langues
Allemand