"Euthanasie"-Verbrechen

Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland, volume 17
publié par: Edition Temmen
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Synthèse

Sammelband "Euthanasie"-Verbrechen. Forschungen zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik.

Aus dem Inhalt:

Herbert Diercks: "Euthanasie"-Verbrechen in Hamburg – ein Überblick

Marc Burlon und Lawrence A. Zeidman: "Euthanasie" an Kindern in Hamburg: Das "Reichsausschuß"-Verfahren – von der Meldung zum Hirnpräparat

Hendrik van den Bussche: Die akademische Seite der "Kindereuthanasie" während des Zweiten Weltkrieges und in der Nachkriegszeit

Friedrich Leidinger: Vom Krankenmord zum Holocaust. Die Ermordung der polnischen Psychiatriepatientinnen und -patienten unter deutscher Besatzung im Zweiten Weltkrieg

Thomas Irmer: "… sogenannte 'asoziale Elemente' ebenfalls zur Vernichtung reif machen". Das Berliner Arbeitshaus Rummelsburg und die NS-"Euthanasie" 1940 bis 1942

Uwe Lohalm: "Es gibt in Deutschland sicherlich keine Stelle, die eine solche Menge brüchiger und unterwertiger Menschen mit einer so kleinen Schar von Stationskräften bewahrt." Zur Entwicklung der Staatlichen Wohlfahrtsanstalten in Hamburg 1933 bis 1945

Carola S. Rudnick: Den Opfern ein Gesicht, den Namen wiedergeben. Der wissenschaftliche und erinnerungskulturelle Umgang mit den sterblichen Überresten getöteter Kinder der "Kinderfachabteilung" Lüneburg

Claudia Schaaf: Die "Psychiatrisierung" von "Querulanten" im Nationalsozialismus – ein Fallbeispiel

Friedrich Ernst Struwe: Die "Aktion T4" und die Landesheilanstalt Neustadt in Holstein

Diercks, Herbert: "Euthanasie"-Verbrechen in Hamburg - ein Überblick

In Hamburg waren 1933 etwa 4000 psychisch erkrankte Männer, Frauen und Kinder in den beiden großen Staatskrankenanstalten Friedrichsberg in Hamburg-Eilbek und Langenhorn in Hamburg-Langenhorn sowie in der Heilanstalt Strecknitz in Lübeck untergebracht. Die Patientinnen und Patienten dieser Anstalten sowie die Bewohnerinnen und Bewohner der Alsterdorfer Anstalten und alle Menschen, die außerhalb der Anstalten lebten und als "psychisch krank", "behindert", "asozial", "minderwertig " oder "gefährlich" und deshalb als "lebensunwert" galten, waren im Nationalsozialismus potenzielle Opfer von "Euthanasie"- Verbrechen. Sie waren entwürdigenden Diffamierungen ausgesetzt, in den 1930er-Jahren zunächst von Zwangssterilisationen betroffen und während des Krieges von der Abschiebung in Tötungsanstalten der "Euthanasie". Kleinkinder wurden in den zwei Hamburger "Kinderfachabteilungen " im Kinderkrankenhaus Rothenburgsort und in der Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn getötet. Zahlreiche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verschiedener Behörden und Ämter, der Hamburger Universität, der Krankenhäuser, der Pflegeheime und der Fürsorgeeinrichtungen sowie die Dienststellen der NSDAP waren an den Verbrechen beteiligt. Die Täterinnen und Täter waren fast ausnahmslos keiner Strafverfolgung ausgesetzt. Erst in den 1980er- Jahren erschienen in Hamburg erste Veröffentlichungen zu den "Euthanasie"-Verbrechen. Die historische Aufarbeitung dieser Verbrechen war auch von öffentlichen Diskussionen über den angemessenen Umgang unserer Gesellschaft mit Menschen mit Behinderungen und Erkrankungen begleitet. Seitdem haben die Forderungen, kranke, behinderte und hilfebedürftige Menschen in ihrer Würde zu achten und ihre selbstverständliche Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu gewährleisten, immer mehr Zustimmung gefunden.

Diercks, Herbert: "Euthanasia" crimes in Hamburg - an overview

In Hamburg in 1933, around 4,000 mentally ill men, women and children were housed in two large state hospitals - Friedrichsberg in Hamburg-Eilbek and Langenhorn in Hamburg- Langenhorn - as well as the Strecknitz mental institution in Lübeck. The patients in these institutions, along with the residents of the Alsterdorf institutions and everyone living outside of these facilities who was considered "mentally ill", "handicapped", "anti-social", "inferior" or "dangerous" and thus "unworthy of life", were potential victims of "euthanasia" crimes under the Nazis. They were subjected to degrading defamation, they faced forced sterilisation in the 1930s, and during the war they were deported to "euthanasia" facilities. Young children were killed in the two "special children's wards" in Hamburg, one in the Rothenburgsort children's hospital and the other in the Langenhorn mental hospital. Numerous employees of various authorities and departments, the University of Hamburg, hospitals, care homes, welfare facilities and the offices of the Nazi Party were involved in the crimes. Almost without exception, the perpetrators never faced criminal prosecution. It was not until the 1980s that the first publications appeared in Hamburg addressing these "euthanasia" crimes. The historical analysis of these crimes was accompanied by public discussions about appropriate ways for our society to deal with people with impairments and illnesses. Ever since then, there has been growing support for the demand that sick, handicapped and needy people be treated with dignity and guaranteed the opportunity to participate in social life.

Burlon, Marc / Zeidman, Lawrence A.: The "euthanasia" of children in Hamburg: The "ReichsausschußVerfahren" - from registration to neuropathological brain slices

While researching his medical history dissertation, which was completed in 2009, Marc Burlon found histological specimens in the neuropathology archive of the University Medical Centre Hamburg-Eppendorf (UKE) from the brains of children who had been murdered in the "special children's wards" in Rothenburgsort and Langenhorn in Hamburg. On the basis of this, the essay documents the history of the two "special children's wards" that were established in Hamburg in 1940-41 in the Rothenburgsort children's hospital and the Langenhorn mental hospital. The head of the "special children's ward" in Rothenburgsort was the paediatrician Wilhelm Bayer, while the head of the ward in Langenhorn was the psychiatrist and neurologist Friedrich Knigge. The essay looks at how public health authorities, public health officers, midwives, the so-called "Reich committee" in Berlin and the staff of the "special children's wards" worked together to register, admit and murder the children. The doctors lied to the parents of the future murder victims about the purpose of admitting their children to the "special children's wards". Some of the murdered children were autopsied on site. Their brains were sent for further study to the Institute of Pathology at St. Georg hospital in Hamburg or to neuropathologist Hans Jacob at the Institute of Pathology of the University Medical Centre Hamburg-Eppendorf. On 12 September 2012, the remains of the children murdered in the Hamburg "special children's wards" that had been discovered in the UKE neuropathology institute were buried in the Ohlsdorf cemetery in Hamburg. Other specimens from victims of the "special children's ward" in Lüneburg were given by the University Medical Centre Hamburg- Eppendorf to the Memorial for the Victims of Nazi Psychiatry in Lüneburg. These specimens were interred on 25 August 2013 during the dedication of the memorial site in the Nord- West cemetery in Lüneburg for the children murdered in the Lüneburg "special children's ward".

Burlon, Marc / Zeidman, Lawrence A.: "Euthanasie" an Kindern in Hamburg: Das "Reichsausschuß"- Verfahren - von der Meldung zum Hirnpräparat

Im Zusammenhang mit der Erarbeitung seiner 2009 fertiggestellten medizinhistorischen Dissertation fand Marc Burlon im Archiv der Neuropathologie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) histologische Präparate der Gehirne von Kindern, die in den Hamburger "Kinderfachabteilungen" Rothenburgsort und Langenhorn ermordet worden waren. Hiervon ausgehend stellt der Aufsatz die Geschichte der beiden "Kinderfachabteilungen " dar, die 1940/41 in Hamburg im Kinderkrankenhaus Rothenburgsort und in der Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn eingerichtet wurden. Leiter der "Kinderfachabteilung" Rothenburgsort war der Kinderarzt Wilhelm Bayer, Leiter der "Kinderfachabteilung" Langenhorn der Psychiater und Neurologe Friedrich Knigge. Thematisiert wird das Zusammenwirken von Gesundheitsämtern, Amtsärzten, Hebammen, dem sogenannten "Reichsausschuß " in Berlin und dem Personal in den "Kinderfachabteilungen" bei Erfassung, Einweisung und Ermordung der Kinder. Die Ärzte täuschten Eltern der späteren Mordopfer über das Ziel der Aufnahme ihrer Kinder in den "Kinderfachabteilungen". Die Sektionen der getöteten Kinder fanden zum Teil vor Ort statt. Die entnommenen Gehirne gingen zur weiteren Untersuchung in die Pathologie des Hamburger Krankenhauses St. Georg bzw. in die Pathologie des Universitätskrankenhauses Hamburg-Eppendorf an den Neuropathologen Hans Jacob. Am 12. September 2012 wurden die in der Neuropathologie des UKE entdeckten sterblichen Überreste der in den Hamburger "Kinderfachabteilungen " ermordeten Kinder auf dem Friedhof Ohlsdorf in Hamburg beigesetzt. Ebenfalls aufgefundene Präparate von Opfern der "Kinderfachabteilung" Lüneburg übergab das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf der "Bildungs- und Gedenkstätte 'Opfer der NS-Psychiatrie' Lüneburg". Die Beisetzung dieser Präparate erfolgte am 25. August 2013 im Rahmen der Einweihung der Gedenkanlage für die in der "Kinderfachabteilung" Lüneburg ermordeten Kinder auf dem Friedhof Nord- West in Lüneburg.

van den Bussche, Hendrik: Die akademische Seite der "Kindereuthanasie" während des Zweiten Weltkrieges und in der Nachkriegszeit

Ab Mitte 1939 wurde mit der Tötung behinderter Kinder im Rahmen der "Kindereuthanasie" begonnen. Den Tötungen, die in den "Kinderfachabteilungen " durchgeführt wurden, lagen rassenhygienische und ökonomische Motive zugrunde. Auch wissenschaftliche Interessen, allen voran die der Neuropathologie, spielten eine Rolle. Die Entscheidung über Leben und Tod traf ein "Gutachterkreis" aus Pädiatern. Der Aufsatz beschreibt zwei Aspekte: die "Nutzung" der Kinder - lebend oder tot - während des Krieges und danach sowie den Umgang der Wissenschaft mit den Kindertötungen in den gleichen Zeiträumen. Behandelt wird ferner der akademische Umgang mit den Tätern während und nach der Zeit des "Dritten Reiches". Dabei wird deutlich, dass die juristische Aufarbeitung in der Nachkriegszeit trotz eindeutiger Beweislage im Sande verlief. Auch die Hochschulen schreckten nicht davor zurück, führende Köpfe der "Kindereuthanasie " nach Kriegsende auf neu zu besetzende Lehrstühle zu berufen. Die Täter wurden durch Kollegen fachlich, ethisch und politisch entlastet und die Tötung Behinderter wurde durch die Justiz zu einer privaten Auffassungsfrage erklärt und damit juristischen oder berufsständischen Sanktionen entzogen.

van den Bussche, Hendrik: The academic aspect of "children's euthanasia" during and after World War II

Beginning in 1939, many mentally and physically handicapped children in Germany were killed in the context of the "children's euthanasia" programme. The murders took place in about 30 hospitals where so-called "special children's wards" were established. The underlying motives were racial, economic and scientific in nature, with neuropathology having a particular interest in researching children's brains. The life-and-death decisions were taken by a small circle of paediatricians. This essay about the academic aspect of "children's euthanasia" addresses two main topics: a) what disabled children - whether dead or alive - were used for, and b) how science was involved in the organised murder of children both during and after World War II. It also discusses how universities and the judicial system dealt with the perpetrators. In spite of clear evidence, none of the responsible paediatricians was ever brought to justice, and criminals were even nominated for vacant department chairs. The offenders were exculpated by colleagues, and the murder of handicapped children was declared to be a private issue without legal consequences.

Leidinger, Friedrich: Vom Krankenmord zum Holocaust. Die Ermordung der polnischen Psychiatriepatientinnen und - patienten unter deutscher Besatzung im Zweiten Weltkrieg

Der Aufsatz verdeutlicht den Zusammenhang zwischen den Morden an den polnischen Psychiatriepatientinnen und -patienten, dem medizinischen Programm zur Vernichtung "lebensunwerten Lebens" und dem rassistischen Vernichtungskrieg gegen die polnische und jüdische Bevölkerung. Nach dem Überfall der Wehrmacht auf Polen am 1. September 1939 waren psychiatrische Anstalten das erste Ziel des Vernichtungskrieges. Die Insassen der Einrichtungen wurden zu Massenexekutionen fortgeführt, wobei von Beginn im Oktober 1939 an Gas als Mordwaffe gegen die Kranken eingesetzt wurde. 1939/40 wurden so die Methoden des später industriemäßig durchgeführten Völkermords entwickelt und erprobt. Mindestens 20 000, wahrscheinlich sogar 30 000 Psychiatriepatientinnen und -patienten wurden während des Krieges in Polen ermordet. Von den polnischen Psychiatern und Psychiaterinnen hat fast die Hälfte - mehr als hundert - den Krieg nicht überlebt.

Leidinger, Friedrich: From murdering the sick to the Holocaust. The murder of Polish psychiatric patients under German occupation in World War II

This essay aims to highlight the connection between the murder of Polish psychiatric patients, the medical programme for exterminating "life unworthy of life" and the racist war of extermination against the Polish and Jewish populations. After the Wehrmacht invaded Poland on 1 September 1939, psychiatric institutions became the first target of the war of extermination. The inmates in these institutions were led to mass executions, with gas being used to murder the sick right from the start in October 1939. The methods for the industrialized genocide that was to follow were therefore first developed and tested in 1939-40. At least 20,000, and probably even up to 30,000, psychiatric patients were murdered during the war in Poland. And nearly half of all Polish psychiatrists - more than a hundred - did not survive the war.

Irmer, Thomas: "... sogenannte 'asoziale Elemente' ebenfalls zur Vernichtung reif machen". Das Berliner Arbeitshaus Rummelsburg und die NS-"Euthanasie" 1940 bis 1942

Die Geschichte des am 1. Oktober 1897 eröffneten größten deutschen Arbeitshauses in Berlin- Rummelsburg ist bislang kaum erforscht. Der Aufenthalt in dieser Anstalt bedeutete für die eingewiesenen Bettler und Bettlerinnen, Obdachlosen und Prostituierten Entmündigung durch zwangserzieherische Maßnahmen, mit denen eine "Umkorrigierung" zu einem "ordentlichen und arbeitsamen Leben" erreicht werden sollte. Die Nationalsozialisten wollten das Arbeitshaus Rummelsburg zur zentralen Berliner Sammelanstalt für "Asoziale und Gefährdete aller Art" machen. Im Januar 1941 wurden alle 30 jüdischen Insassinnen und Insassen im Rahmen einer "Sonderaktion" der NS-"Euthanasie" ermordet. Nach einem Blick auf den Forschungsstand zur Geschichte des Arbeitshauses Rummelsburg in der NS-Zeit werden diese "Sonderaktion " von 1941 und eine ebenfalls im Rahmen der NS-"Euthanasie" im Jahr 1942 durchgeführte Erfassung aller Insassinnen und Insassen des Arbeitshauses Rummelsburg näher betrachtet. Ziel der Erfassung der Insassinnen und Insassen im Jahr 1942 war, auch "Asoziale" systematisch in die NS-"Euthanasie" einzubeziehen. In den Aktionen zeigt sich zugleich, dass auch bei der Verfolgung der "Asozialen" antisemitische Motive Vorrang hatten. Auch "ganz unten" unterschieden die Nationalsozialisten zwischen "Juden" und "Nichtjuden".

Irmer, Thomas: "... so-called 'anti-social elements' also to be readied for extermination". The Rummelsburg workhouse in Berlin and Nazi "euthanasia" 1940 to 1942

The history of the largest German workhouse, which opened on 1 October 1897 in Berlin- Rummelsburg, has hardly been researched to date. The beggars, homeless people and prostitutes who were sent to this facility faced humiliation through compulsory educational measures that were intended to "reform" them to lead an "orderly and industrious life". The Nazis wanted to turn the Rummelsburg workhouse into the central Berlin assembly facility for "all types of anti-social elements and vulnerable people". In January 1941, all 30 Jewish inmates of the facility were murdered in a "special action" in the context of the Nazis' "euthanasia" programme. After examining the state of research into the history of the Rummelsburg workhouse during the Nazi era, the essay takes a closer look at this "special action" in 1941 as well as the registration of all inmates of the Rummelsburg workhouse which was carried out in 1942 as part of the Nazis' "euthanasia" programme. The purpose of registering the inmates in 1942 was to systematically include "anti-social elements" in the "euthanasia" programme. The actions also reveal that antisemitic motives were a priority in the persecution of "anti-social elements". Even "at the very bottom", the Nazis made a distinction between "Jews" and "non-Jews".

Lohalm, Uwe: "Es gibt in Deutschland sicherlich keine Stelle, die eine solche Menge brüchiger und unterwertiger Menschen mit einer so kleinen Schar von Stationskräften bewahrt."

Zur Entwicklung der Staatlichen Wohlfahrtsanstalten in Hamburg 1933 bis 1945 Betreuung und Pflege von alten, siechen und behinderten Menschen, die weder durch die Familien noch die privaten Heime übernommen werden konnten, sowie die Unterbringung und Versorgung von sozial Abseitsstehenden waren eine öffentliche Aufgabe der Kommunen und der Länder. Hamburg verfügte dafür unter dem Dach der Wohlfahrts-/Fürsorgebehörde bzw. der Sozialverwaltung über ein komplexes Anstaltswesen, die "Staatlichen Wohlfahrtsanstalten ". Diese wurden von 1926 bis 1950 von Georg Steigertahl geleitet. In ihnen fanden mehrere Tausend Menschen Aufnahme. Mithilfe des umfassenden Anstaltskomplexes sollten Betreuung und Versorgung möglichst effektiv und kostengünstig erfolgen. Dabei sollte die den Einzelnen entgegengebrachte individuelle Fürsorge unter Berücksichtigung der jeweiligen "Wertigkeit" für das "Volksganze " erfolgen. Nach der Überformung der allgemeinen Fürsorge durch die nationalsozialistischen Ungleichwertigkeitsideen führte diese bereits zuvor praktizierte Differenzierung zu einer immer stärkeren Marginalisierung bestimmter Gruppen wie z. B. der sogenannten Asozialen, Bettler oder Prostituierten. Sie hatten vermehrt unter Zwangsbewahrung und Arbeitseinsatz zu leiden und zählten auch zu den ersten Opfern der nationalsozialistischen gesundheitspolitischen Maßnahmen in den Anstalten. Im Krieg setzte zur Bereitstellung von Krankenhaus- und Anstaltsbetten für angeblich höherwertige Bevölkerungsgruppen ein sich radikalisierender Verdrängungsprozess ein. Er führte schließlich dazu, dass alte, sieche, kranke und behinderte Pfleglinge vielfach in auswärtige Anstalten verlegt wurden, darunter auch in Anstalten der "Euthanasie".

Lohalm, Uwe: "There is certainly nowhere else in Germany looking after such a large number of fragile and inferior people with such a small band of ward staff." The development of state welfare institutions in Hamburg from 1933 to 1945

It was the public duty of the local authorities and states to provide care and nursing for old, infirm and handicapped people who could not be looked after by their families or private care homes, and to provide accommodation and support for social outsiders. Hamburg therefore had a complex network of "state welfare institutions" under the umbrella of the charity/welfare authority and the social services administration. These were led by Georg Steigertahl from 1926 to 1950. They took in thousands of people. This extensive institutional complex was intended to make supervision and care as effective and inexpensive as possible. However, the relief provided to each individual was to be weighed against the respective "value" for the "people as a whole." After the general welfare programme was transformed by the Nazis' notions of inequality, the differentiation that had already been practised led to the intensified marginalisation of certain groups, such as so-called "anti-social elements", beggars and prostitutes. More and more of these people were subjected to compulsory custody and labour, and they were also among the first victims of the Nazis' health policies in the institutions. During the war, an increasingly radical displacement process was implemented to make beds available in hospitals and institutions for supposedly higher-value population groups. This ultimately led to many old, infirm and handicapped patients being moved to external institutions, including "euthanasia" facilities.

Rudnick, Carola S.: Den Opfern ein Gesicht, den Namen wiedergeben. Der wissenschaftliche und erinnerungskulturelle Umgang mit den sterblichen Überresten getöteter Kinder der "Kinderfachabteilung " Lüneburg

Mitte Januar 2011 wandte sich der Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) an den Ärztlichen Direktor der Psychiatrischen Klinik Lüneburg und informierte ihn über den Fund von Präparaten aus Lüneburg, die vermutlich aus den Jahren 1941/42 stammten. In einem Keller sei in der Sammlung des Instituts für Neuropathologie des UKE ein Karton mit Objektträgern mit Gehirnschnitten gefunden worden. Er fragte an, ob die Psychiatrische Klinik Lüneburg sich an einer Bestattung solcher Präparate in Hamburg beteiligen würde. Von den in Hamburg gefundenen Präparaten konnten 577 Objektträger mit Gehirnschnitten zwölf Kindern zugeordnet werden, die in der "Kinderfachabteilung" Lüneburg ermordet wurden. Nach ihrer Sektion sind Präparate an das UKE für dortige Forschungen weitergegeben worden. Die Kinder gehörten zu den ersten 130 in die "Kinderfachabteilung" Lüneburg eingewiesenen Kindern, die aus den Anstalten der Inneren Mission in Rotenburg (Wümme) in die Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg verlegt worden waren. Die meisten von ihnen starben in den ersten Monaten nach ihrer Ankunft. Für die Beisetzung der sterblichen Überreste der zwölf Kinder wurde im Bereich des ehemaligen Anstaltsfriedhofs der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg auf dem Lüneburger Friedhof Nord-West eine Gedenkanlage geschaffen. Um noch lebende Angehörige der Kinder zu finden und ihnen die Teilnahme an der Beisetzung zu ermöglichen, wurden in Zeitungen, in deren Einzugsgebiet die Geburtsoder ehemaligen Wohnorte der Kinder lagen, jeweils individuelle Berichte über die betreffenden Kinder veröffentlicht. In den Berichten wurden die Namen und Lebensdaten der Kinder und ihrer Eltern genannt. Von insgesamt acht der zwölf Kinder konnten so Angehörige, überwiegend Geschwister, Cousins und Cousinen gefunden werden. In Gesprächen mit den Angehörigen und anhand privater Dokumente und Fotos sowie erhalten gebliebener Krankenakten konnten in vielen Fällen die Lebens- und Familiengeschichten rekonstruiert werden. Die Lebensgeschichten zweier Kinder werden im Aufsatz vorgestellt. Die Beisetzung der sterblichen Überreste der zwölf Kinder fand unter Beteiligung von Angehörigen im Rahmen einer Gedenkfeier am 25. August 2013 statt.

Rudnick, Carola S.: Giving the victims a face and a name. How research and memory culture have dealt with the remains of the children killed in the "special children's ward" in Lüneburg

In mid-January 2011, the director of the Institute of the History and Ethics of Medicine at the University Medical Centre Hamburg- Eppendorf (UKE) contacted the medical director of the Lüneburg Psychiatric Clinic and informed him of the discovery of specimens from Lüneburg that were probably from the years 1941-42. A box containing slides with brain slices had been found in a cellar in the collection of the UKE Institute of Neuropathology. He asked whether the Lüneburg Psychiatric Clinic would take part in interring these specimens in Hamburg. Of the specimens found in Hamburg, 577 slides with brain slices could be connected to twelve children who had been murdered in the "special children's ward" in Lüneburg. After the children had been autopsied, the specimens had been sent to the UKE for further research. The children were among the first 130 to have been transferred to the "special children's ward" in the Lüneburg mental hospital from the Inner Mission institutions in Rotenburg (Wümme). Most of them died within the first months after their arrival. To bury the remains of the twelve children, a memorial was created in the Nord-West cemetery in Lüneburg on the site of the former institutional cemetery of the Lüneburg mental hospital. In order to find living relatives of the children so that they could participate in the ceremony, articles about the individual children were published in newspapers which circulated in the children's birthplaces or former homes. The articles mentioned the names and the dates of birth and death of both the children and their parents. This made it possible to find relatives of eight of the twelve children, most of them siblings or cousins. Based on discussions with the relatives, private documents and photos, and surviving medical files, the biographies of many of the children and their families could be reconstructed. This essay presents the life stories of two of the children. The interment of the remains of the twelve children took place in the presence of their relatives during a ceremony on 25 August 2013.

Schaaf, Claudia: Die "Psychiatrisierung" von "Querulanten" im Nationalsozialismus - ein Fallbeispiel

Der Aufsatz skizziert den Lebensweg des in der Landesheilanstalt Hadamar in Hessen im Januar 1945 ermordeten Ernst Putzki, dessen Verfolgung exemplarisch für die "Psychiatrisierung " von als "Querulanten" geltenden regimekritischen Menschen im Nationalsozialismus steht. Die erhalten gebliebene Patientenakte Ernst Putzkis ermöglicht nicht nur, seine Verfolgung durch die Gestapo in Hagen in Westfalen und seine Unterbringung in den Landesheilanstalten Warstein, Weilmünster und Hadamar bis zu seiner Ermordung in Hadamar Anfang Januar 1945 nachzuzeichnen. Die in der Akte enthaltenen von den Anstalten zurückgehaltenen Briefe mit politischen Stellungnahmen sowie karikaturartigen Zeichnungen Ernst Putzkis vermitteln auch Ernst Putzkis Sicht seiner Verfolgung und seine Einschätzung seiner Situation - ohne die Verzerrungen, von denen die Dokumente der Gestapo und des medizinischen Personals geprägt sind. In den zurückgehaltenen Briefen schildert Ernst Putzki eindringlich die menschenverachtenden Lebensbedingungen in den Anstalten und in drei in der Akte überlieferten Zeichnungen karikiert bzw. kritisiert er Adolf Hitler und das nationalsozialistische Regime. Die über den Tod Ernst Putzkis hinaus fortgeführte Akte enthält zudem Korrespondenz der Anstalt Hadamar mit dem nordrhein-westfälischen Sozialministerium aus der Nachkriegszeit, die zeigt, wie die Anstalt 1948 durch Verschweigen von Angaben und selektive Weitergabe von Informationen die tatsächlichen - politischen - Gründe für Ernst Putzkis Verfolgung ebenso wie seine Tötung im Rahmen der NS-Krankenmorde vertuscht hat.

Schaaf, Claudia: The "psychiatrisation" of "malcontents" under the Nazis - a case study

This essay looks at the life of Ernst Putzki, who was murdered in the Hadamar state mental institution in Hesse in January 1945, and whose persecution is an example of the "psychiatrisation" of people critical of the regime who were branded "malcontents" by the Nazis. Ernst Putzki's patient file make it possible to trace his persecution by the Gestapo in Hagen in Westphalia and his detention in the Warstein, Weilmünster and Hadamar state mental institutions until he was murdered in Hadamar in early January 1945. The files also include letters held back by the institutions containing political comments and caricature-like drawings by Ernst Putzki, which convey Putzki's view of his persecution and his appraisal of his situation - without the distortions found in the documents of the Gestapo and the medical personnel. In these withheld letters, Ernst Putzki vividly describes the inhuman living conditions in the institutions, and in all three of the drawings that survived in the file he caricatures or criticises Adolf Hitler and the Nazi regime. The file continued to be updated after Ernst Putzki's death and also contain correspondence from the Hadamar institution with the Ministry of Social Affairs of North Rhine-Westphalia in the post-war period, which shows how the institution suppressed or selectively released information in 1948 to conceal the actual - political - reasons for Ernst Putzki's persecution and death in the context of the Nazis programme for murdering the sick.

Struwe, Friedrich Ernst: Die "Aktion T4" und die Landesheilanstalt Neustadt in Holstein

Der Aufsatz behandelt die Teilnahme der schleswig-holsteinischen Landesheilanstalt Neustadt in Holstein an der "Aktion T4" im Rahmen der "organisierten Euthanasie" der Nationalsozialisten. Nach Skizzierung des Ausbaus und der Blütezeit der 1893 gegründeten Anstalt werden Grundlagen, Organisation und Praktiken der "Aktion T4" in ihren wesentlichen Zügen beschrieben. Im Kriegsjahr 1941 wurde die Neustädter Anstalt zusammen mit den Schleswiger Anstalten der schleswig-holsteinischen Provinzialverwaltung in die "Aktion T4" einbezogen. Ihr Ablauf wird - soweit er die Neustädter Patientinnen und Patienten betraf - eingehend dargestellt. 234 psychisch kranke und/oder geistig behinderte Schützlinge der Neustädter Anstalt wurden in der Tötungsanstalt Bernburg an der Saale ermordet. Im August 1941 wurde die "Aktion T4" beendet. An ihre Stelle trat die "dezentrale Euthanasie". Die Neustädter Anstalt wurde noch 1941 geräumt und zu einem "Ausweichkrankenhaus " umgebaut. Nur wenige der im Zuge der Räumung in andere Anstalten abgeschobenen 743 Patientinnen und Patienten überlebten die "dezentrale Euthanasie".

Struwe, Friedrich Ernst: "Aktion T4" and the Neustadt in Holstein state mental institution

This essay looks at how the Neustadt in Holstein state mental institution in Schleswig- Holstein was involved in "Aktion T4" in the context of the Nazis' "organised euthanasia" programme. After outlining the expansion and heyday of the institution, which was established in 1893, the essay describes the foundations, organisation and general practices of the "Aktion T4" campaign. In 1941, the Neustadt institution and the Schleswig institutions of the provincial administration of Schleswig-Holstein were incorporated into "Aktion T4". The course of this programme is described in detail as it related to the Neustadt patients. 234 mentally ill and/ or mentally handicapped wards of the Neustadt institution were murdered in the "euthanasia" facility in Bernburg on the Saale River. "Aktion T4" ended in August 1941. It was replaced with a "decentralised euthanasia" programme. The Neustadt institution was emptied in 1941 and turned into a "replacement hospital". Very few of the 743 patients who were moved to other institutions during the clearance of the Neustadt institution survived this "decentralised euthanasia" Programme.

Détails

Référence
421
ISBN
978-3-8378-4053-7
Année de parution
2016
Langues
Allemand