Die Verfolgung der Sinti und Roma im Nationalsozialismus

Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland, volume 14
publié par: KZ-Gedenkstätte Neuengamme
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Synthèse

Aus dem Inhalt:

  • Hans-Dieter Schmid: Verfolgung der Sinti und Roma in der Zeit des Nationalsozialismus
  • Karola Fings: Dünnes Eis. Sinti, Roma und Deutschland
  • Ulrich Prehn: "... dass Hamburg mit als erste Stadt an den Abtransport herangeht". Die nationalsozialistische Verfolgung der Sinti und Roma in Hamburg
  • Patricia Pientka: Leben und Verfolgung im Zwangslager Berlin-Marzahn 1936-1945
  • Dietmar Sedlaczek: Nur eine Zwischenstation. Sinti und Roma im Jugend-KZ Moringen
  • Barbara Danckwortt: Sinti und Roma als Häftlinge im KZ Ravensbrück
  • Jens-Christian Wagner: Sinti und Roma als Häftlinge im KZ Mittelbau-Dora
  • Thomas Rahe: Sinti und Roma im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Eine Zwischenbilanz der historischen Forschung
  • Frank Reuter: Die Deutungsmacht der Täter. Zur Rezeption des NS-Völkermords an den Sinti und Roma in Norddeutschland
  • Kathrin Herold und Yvonne Robel: Zwischen Boxring und Stolperstein - Johann Trollmann in der gegenwärtigen Erinnerung

Hans-Dieter Schmid: Verfolgung der Sinti und Roma in der Zeit des Nationalsozialismus

Der Beitrag gibt einen Überblick über die Verfolgung der Sinti und Roma in der Zeit des Nationalsozialismus im Kontext der allgemeinen Entwicklung zum zweifachen Genozid an Juden und "Zigeunern". Die Darstellung verfolgt eine vergleichende Perspektive, wobei der Vergleich mit der Verfolgung der Juden als heuristisches Mittel dient, um das Wesentliche und Charakteristische der Verfolgung der Sinti und Roma herauszuarbeiten. Aus der demografischen und sozialen Ausgangslage der beiden Minderheiten sowie aus dem unterschiedlichen Gewicht von Antisemitismus und "Antiziganismus" für die Ideologie der Nationalsozialisten wird zunächst abgeleitet, dass die Verfolgung der Juden auf der politischen Agenda des NS-Regimes deutlichen Vorrang vor der Verfolgung der Sinti und Roma hatte. Deutlich wird dies daran, dass bis zum Frühjahr 1938 über 1000 Sonderbestimmungen gegen Juden, aber nur etwa 10 gegen Sinti und Roma erlassen worden waren. So markiert das Jahr 1938, in dem Juden und "Zigeuner" im Rahmen derselben Aktion zum ersten Mal in größerer Zahl in die Konzentrationslager eingewiesen wurden, den Beginn der systematischen Verfolgung der Sinti und Roma auf der Grundlage der pseudowissenschaftlichen Forschungsergebnisse der "Rassenhygienischen und bevölkerungsbiologischen Forschungsstelle ". In der Phase der "territorialen Endlösung " 1939/40 wurden dann bereits Sinti und Roma in die Deportationen einbezogen - in Nordwestdeutschland war die Deportation von 910 Sinti und Roma nach Bełżec im Mai 1940 sogar die erste Deportation überhaupt. Danach dekretierte Himmler allerdings die Aussetzung der Deportation der Sinti und Roma, um in den Jahren 1941/42 zunächst die Juden aus dem Reich zu deportieren. Mit dem Überfall auf die Sowjetunion setzte dann für Juden und "Zigeuner" gleichzeitig der Genozid in Form von Massenerschießungen durch die Einsatzgruppen und andere Einheiten ein. Mit der großen Auschwitz-Deportation vom März 1943 setzte schließlich auch die Deportation der Sinti und Roma aus dem Reich wieder ein. Ihr Eigentum wurde durch die Finanzverwaltung penibel zugunsten des Reiches eingezogen. Besonders einschneidend an dem Genozid an den Sinti und Roma ist die hohe Zahl von etwa 50 % Kindern unter den Opfern. Der Aufsatz schließt mit kurzen Ausführungen zum Forschungsstand und zu Forschungsdesideraten.

Karola Fings: Dünnes Eis. Sinti, Roma und Deutschland

Fast alle haben eine fest gefügte Vorstellung davon, "wie Zigeuner sind". Doch sie bewegen sich dabei, wie der Beitrag zeigt, auf "dünnem Eis", denn bei dem Versuch, die damit gemeinte Gruppe zu beschreiben, wird die Heterogenität der heute etwa 100 000 in der Bundesrepublik lebenden deutschen Sinti und Roma sowie der geschätzten acht bis zehn Millionen Roma in Europa deutlich. Auch die für die Minderheit zu nennenden spezifischen Kulturelemente - etwa die Sprache Romanes - sind wie alle gesellschaftlichen Gebräuche einem kulturellen Wandel unterlegen, der eine große Bandbreite an Identitätsmerkmalen hervorbringt. Dennoch existiert bis heute ein "Zigeunerbild ", das sich vor dem Hintergrund der Nationalstaatsbildung und der Identitätskrisen der Moderne seit dem Ende des 18. Jahrhunderts in der Mehrheitsgesellschaft herausgebildet hat. Sogenannte "Zigeunerforscher" und zahllose Publizisten formten einen zwischen Romantisierung und Verteufelung changierenden Wissenskanon, der auch nach 1945 ungebrochen Bestand hatte. An dieses "Zigeunerbild" knüpften ordnungsbehördliche Maßnahmen und schließlich die rassenbiologischen und rassenhygienischen Konzepte während des Nationalsozialismus an. Die Kontinuität und Wirkungsmächtigkeit der Vorurteilsstruktur gegenüber "Zigeunern " wird in der Wissenschaft inzwischen unter dem Begriff "Antiziganismus" analysiert. "Dünnes Eis" ist zugleich ein Bild dafür, dass die Lebensrealität der Betroffenen vor 1933 anhand der überwiegend behördlichen, meist polizeilichen Überlieferung kaum zu rekonstruieren ist. Deutlich wird, dass der seit der Reichsgründung verschärfte Kreislauf aus Vertreibung, Kriminalisierung und Verelendung sowie das für die "Zigeunerbekämpfung" entwickelte Instrumentarium eine Grundlage für die nationalsozialistisch geprägte "Lösung der Zigeunerfrage" waren.

Ulrich Prehn: »... dass H amburg mit als erste Stadt an den Abtransport herangeht«. Die nationalsozialistische Verfolgung der Sinti und Roma in Hamburg

In dem Aufsatz wird der Frage nachgegangen, wie sich in der Stadt Hamburg nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten die Politik gegenüber den dort wohnenden Sinti und Roma änderte. Mehr und mehr wurden die in Hamburg lebenden als "Zigeuner " diffamierten Menschen durch den Zugriff von Fürsorgebehörde, Kriminalpolizei und "rassenhygienisch"-kriminalbiologischer Forschung zu Objekten staatlicher Kontrolle und Drangsalierung. Nachgezeichnet wird insbesondere, wie im Laufe der 1930er-Jahre das Doppelkonzept der "Sesshaftmachung" und "Disziplinierung zur Arbeit" durch Maßnahmen abgelöst wurde, die auf die "Erfassung" und "Abschiebung" der Sinti und Roma aus dem Stadtgebiet abzielten. In der Hansestadt waren sich die beteiligten Behörden der Tatsache bewusst, dass Hamburg im Vergleich zu anderen Städten im Deutschen Reich, wo längst begonnen worden war, Sinti und Roma in zentralen "Sammellagern" zu internieren, damit im Rückstand war, der angeblichen "Zigeunerplage" auf lokaler Ebene "Herr" zu werden. Vor diesem Hintergrund werden die ab 1939 intensivierten Bemühungen mit dem Ziel, "dass Hamburg mit als erste Stadt an den Abtransport" der Sinti und Roma "herangeht", analysiert. Im Hinblick auf die Deportationen vom Mai 1940 (nach Bełżec), März 1943 und April 1944 (nach Auschwitz) wird zwei Fragen nachgegangen: Wer waren die Verantwortlichen für die Vorbereitung, Organisation und Durchführung der Verhaftungen und der Transporte "in den Osten"? Welche Auskunft geben die unterschiedlichen Perspektiven der Erinnerungen der Täterinnen und Täter einerseits und der überlebenden Opfer andererseits - beide zumeist im Rahmen von Aussagen in Ermittlungsverfahren gegen Kriminalpolizisten und Kriminalbiologen/"Rasseforscher " überliefert - im Hinblick auf Verantwortung, Täterschaft und Tatbeteiligung, auf Unrechtsbewusstsein und Traumatisierung? Außerdem wird anhand eines Hamburger Beispiels ein Schlaglicht auf Kontinuitäten geworfen, die in der "Mehrheitsgesellschaft" im städtischen Raum auch Jahrzehnte nach dem Übergang von der nationalsozialistischen Diktatur in ein republikanisch-demokratisches Gemeinwesen weiterhin anzutreffen waren: Auch in den 1960er-Jahren waren nicht selten ähnliche Einstellungen gegenüber den unter der stereotypen, ungebrochenen Gleichsetzung von "Zigeuner" und "asozial" stigmatisierten Menschen virulent wie in der NS-Zeit.

Patricia Pientka: Leben und Verfolgung im Zwangslager Berlin-Marzahn 1936-1945

Im Sommer 1936 wurde in Berlin-Marzahn das größte Zwangslager für Sinti und Roma im "Altreich" eingerichtet. Es bestand bis 1945 und bot den nationalsozialistischen Verfolgern einen Exklusionsraum, in dem sie mehr als 1200 als "Zigeuner" verfolgte Personen internierten. Diese außerhalb des KZ-Systems etablierten Exklusionslager für als "Zigeuner" verfolgte Männer, Frauen und Kinder existierten in vielen Städten des Deutschen Reiches. Der Grad ihrer wissenschaftlichen Erforschung hängt ganz wesentlich davon ab, ob für die jeweiligen Städte bzw. Regionen Lokalstudien zur NS-Zigeunerverfolgung vorliegen. Die lokale Verfolgung in Berlin - als Heimatort mehrerer Tausend Sinti und Roma, die während des Nationalsozialismus verfolgt wurden, und als Standort der reichsweit wirkenden zentralen Verfolgungsinstanzen - wurde bisher nicht umfangreich untersucht. Der Beitrag arbeitet den mehrschichtigen Prozess heraus, der zur Gründung des Lagers führte. Dies erscheint vor allem deshalb sinnvoll, weil diese Gründung bisher überwiegend einseitig im Kontext der Olympischen Spiele 1936 gedeutet wurde und die antiziganistische Initiative des Hauptwohlfahrtsamtes Berlin, das maßgeblich für die Einrichtung und den Erhalt des Lagers verantwortlich war, zu wenig beachtet wurde. Im Zentrum des Aufsatzes stehen die konkreten Lebensumstände der im Zwangslager Festgehaltenen, die auf einer breiten Quellengrundlage rekonstruiert werden. Des Weiteren werden die Aktivitäten der lokalen Verfolgungsinstanzen - hier insbesondere der "Dienststelle für Zigeunerfragen" - sowie ihre Interaktion mit reichsweit wirkenden Akteuren im Zusammenhang des Lagers untersucht. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf den Deportationen in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau im März 1943, über die bisher nur wenig bekannt war.

Dietmar Sedlaczek: Nur eine Zwischenstation. Sinti und Roma im Jugend-KZ Moringen

Nach bisherigem Kenntnisstand waren im Jugend- KZ Moringen zwischen 1940 und 1945 27 Sinti und Roma inhaftiert. Wie die anderen Häftlinge waren sie dort völlig entrechtet dem Terror der SS ausgesetzt. Bei unzureichender Ernährung und mangelnder Hygiene mussten sie einen mehr als zehnstündigen täglichen Arbeitseinsatz in einer Vielzahl unterschiedlicher Kommandos leisten. Bereits vor ihrer Haft in Moringen waren die Sinti und Roma in unterschiedlichem Ausmaß Repression und Verfolgung ausgesetzt und auch von Inhaftierungen betroffen. Auch wenn die Sinti und Roma im Gefangenenbuch des Jugend-KZ Moringen in der Regel mit dem Zusatz "Zigeunermischling" geführt wurden, gibt es in den vorliegenden Quellen keinen Hinweis darauf, dass sie in Moringen eine eigene Häftlingsgruppe gebildet hätten. Ausschlaggebend für die Einweisung in das Jugend-KZ war vermutlich nicht per se die Zugehörigkeit zu den Sinti und Roma, vielmehr wurden sie wie die meisten Häftlinge des Jugend-KZ aufgrund ihres sozialen Verhaltens kriminalisiert und zu "Gemeinschaftsfremden " erklärt. Eine rassistische Aufladung erhielt die Haft in Moringen aufgrund der Glaubenssätze der sogenannten Kriminalbiologie, wonach das den jugendlichen Häftlingen attestierte Verhalten erblich bedingt sei. In dem von dem "Leitenden Kriminalbiologen" Robert Ritter entwickelten und in Moringen angewandten Blocksystem wurden die Häftlinge nach sozialdarwinistischen und rassenbiologischen Kriterien eingeteilt. Dies konnte erhebliche Konsequenzen wie z. B. die Überstellung in andere Konzentrationslager oder die Einweisung in geschlossene Heil- und Pflegeeinrichtungen haben. Hieran wird deutlich, wie sehr rassistische und soziale Verfolgung im Nationalsozialismus miteinander verwoben waren. Die am weitesten reichende Auswirkung auf das Leben der Sinti und Roma im Jugend-KZ hatte allerdings der sogenannte "Auschwitz-Erlass" Himmlers im Dezember 1942, in dem die Deportation der Sinti und Roma nach Auschwitz angeordnet wurde. Er bedeutete eine dramatische Differenzierung der Häftlingsbiografien im Jugend-KZ - er konnte den Tod bedeuten, bestenfalls eine etwa einjährige Odyssee durch weitere Lager im Anschluss an die Haft in Auschwitz.

Barbara Danckwortt: Sinti und Roma als Häftlinge im KZ Ravensbrück

Im ersten Teil des Aufsatzes wird ein Überblick über die bislang bekannten Fakten zu Sinti und Roma als Häftlingen im KZ Ravensbrück gegeben. In Schilderungen von Gefangenen kommen Sinti und Roma dabei selbst zu Wort. Für einige Phasen ist die Überlieferung dicht, andere sind nur rar belegt. Ausländische Transporte sind kaum erforscht, obwohl vor allem in der letzten Phase des Lagers 1944/45 zahlreiche Sinti und Roma aus Ungarn ins KZ Ravensbrück und die Außenlager kamen. Zu den nach wie vor bestehenden Forschungsdesideraten gehören eine Bestandsaufnahme der Transportlisten und der Meldungen über Häftlingsstärken sowie eine Auswertung der Einzelüberstellungen. Im zweiten Teil werden Lebenserinnerungen ehemaliger Gefangener analysiert und zum einen die Sichtweise der Mithäftlinge auf die Sinti und Roma hinterfragt, zum anderen die Einstellung der Sinti und Roma diesen gegenüber herausgearbeitet. Deutlich wird, dass die Sinti und Roma von anderen Häftlingen als anonyme Sondergruppe wahrgenommen wurden: Interniert in besonderen Baracken, mit einer unverständlichen Sprache, als Ausnahmefall mit Kindern, fremd im Aussehen und Verhalten. In den Lebenserinnerungen von Sinti und Roma spielt dagegen Solidarität, gegründet auf Zusammengehörigkeitsgefühl und gegenseitige Hilfeleistung innerhalb der eigenen Gruppe - besonders der eigenen Familie -, eine entscheidende Rolle, während gegenüber deutschen Mithäftlingen Misstrauen herrschte. Die politischen Gefangenen wurden wie eine andere Klasse empfunden, unerreichbar für einen Häftling mit schwarzem Winkel. Positive Wertungen finden sich dagegen über sowjetische und jüdische Gefangene und Zeugen Jehovas sowie andere Häftlinge mit schwarzem oder grünem Winkel.

Jens-Christian Wagner: Sinti und Roma als Häftlinge im KZ Mittelbau-Dora

Für die wenigen Überlebenden des Auschwitzer "Zigeuner-Familienlagers", die zur Zwangsarbeit für die Rüstungsindustrie herangezogen wurden, entwickelte sich das KZ Mittelbau-Dora zum wichtigsten Ziellager: Etwa die Hälfte von ihnen, rund 1500 Jungen und Männer, brachte die SS 1944 aus Auschwitz über das KZ Buchenwald nach Mittelbau- Dora. Im Vergleich zu anderen Häftlingsgruppen war die Todesrate unter den Sinti und Roma in den Lagern des KZ Mittelbau auffallend niedrig - angesichts der Vernichtungsabsicht der SS gegenüber den als "Zigeunern" eingewiesenen Häftlingen ein überraschender Befund, der erst beim Blick auf das aktive Handeln dieser Häftlinge erklärbar wird: Es waren vor allem die in einer feindlich gesinnten Mehrheitsgesellschaft eingeübten individuellen und kollektiven Selbstbehauptungsstrategien, die die Überlebenschancen der Sinti und Roma in den Lagern des KZ Mittelbau-Dora verbesserten.

Thomas Rahe: Sinti und Roma im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Eine Zwischenbilanz der historischen Forschung

Sinti und Roma waren die drittgrößte Häftlingsgruppe im Konzentrationslager Bergen- Belsen. Mindestens 1800 von ihnen wurden dort am 15. April 1945 befreit. Sie waren erst spät nach Bergen-Belsen gebracht worden: Die Frauen und Kinder überwiegend im Februar und März 1945, die meisten der männlichen Sinti und Roma sogar erst in den letzten fünf Tagen vor der Befreiung. Gleichwohl waren sie die Gruppe mit dem höchsten Anteil an Kindern im Konzentrationslager Bergen- Belsen. Die Mehrheit von ihnen stammte aus Deutschland, aber auch größere Gruppen von Roma aus Ungarn und Polen wurden nach Bergen-Belsen deportiert. Die seit den späten 1980er-Jahren geführten Interviews mit Sinti und Roma, die in Bergen- Belsen befreit worden sind, besitzen eine besondere Bedeutung für die Rekonstruktion ihrer Verfolgungsgeschichte. Der Beitrag analysiert die Qualität dieser Zeugenberichte als einer spezifischen historischen Quelle und versucht, angemessene Interpretationsmethoden für sie zu finden.

Frank Reuter: Die Deutungsmacht der Täter. Zur Rezeption des NS-Völkermords an den Sinti und Roma in Norddeutschland

Der Beitrag analysiert die Ursachen für die jahrzehntelange Verdrängung des Völkermords an den Sinti und Roma vor dem Hintergrund der ideologischen wie personellen Kontinuitäten aus der NS-Zeit. Insbesondere die Renazifizierung der Kriminalpolizei, die an der systematischen Vernichtung der Sinti und Roma maßgeblich beteiligt gewesen war, und das Fortwirken ihrer rassistischen Konzepte schufen die Grundlage für die fortgesetzte Stigmatisierung der Überlebenden. Die Exkulpation der Täter setzte die Kriminalisierung der Opfer zwingend voraus. Die Weichen für diese Entwicklung wurden bereits durch die britische Besatzungspolitik gestellt. Anhand der vier nordwestlichen Bundesländer Schleswig- Holstein, Niedersachsen, Hamburg und Bremen arbeitet der Autor die Paradigmen polizeilichen Denkens und Handelns heraus, die den gesellschaftlichen Umgang mit Sinti und Roma nach 1945 auf unterschiedlichen Feldern geprägt haben (diskriminierendes Sonderrecht und Sondererfassung, verweigerte Entschädigung, kommunalpolitische Ausgrenzung, gescheiterte juristische Aufarbeitung). Erst die seit Ende der 1970er-Jahre in die politische Öffentlichkeit tretende Bürgerrechtsbewegung der deutschen Sinti und Roma vermochte das Deutungsmonopol der Täter zu brechen. Dies ging einher mit einem tief greifenden Paradigmenwechsel in der deutschen Erinnerungskultur, durch den die vormals "vergessenen Opfer" der Sinti und Roma auf nationaler wie regionaler Ebene Schritt für Schritt in das öffentliche Gedenken einbezogen wurden.

Kathrin Herold und Yvonne Robel: Zwischen Boxring und Stolperstein – Johann Trollmann in der gegenwärtigen Erinnerung

Der 36-jährige Sinto Johann Trollmann aus Hannover war Profiboxer und Deutscher Meister im Halbschwergewicht. Nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten wurde er aus dem Profiboxsport verdrängt und mit seiner Familie zunehmend ausgegrenzt. 1942 verhaftete ihn die Kriminalpolizei und wies ihn in das Konzentrationslager Neuengamme ein. Er wurde vermutlich 1944 in einem Außenlager des KZ Neuengamme getötet; auch mehrere Angehörige seiner Familie fielen dem nationalsozialistischen Genozid zum Opfer. Erst seit den 1990er-Jahren wird öffentlich an Johann Trollmann erinnert. Dies geschieht teils auch auf unkonventionelle Weise, z. B. durch Boxturniere oder einen als Kunstwerk aufgestellten Boxring. Der Beitrag zeichnet nach, wo und durch wen das Sprechen über Johann Trollmann als NS-Opfer begann und welche Narrationen hierbei zentral bedient werden. Die rekonstruierte Rezeptions- und Erinnerungsgeschichte ermöglicht es, exemplarisch die Motivationen und Identitätsangebote aufzuspüren, die die Erinnerung und deren Akteure prägen.

Détails

Référence
373
ISBN
978-3-8378-4039-1
Année de parution
2012
Langues
Allemand