Verfolgung durch die nationalsozialistische Fürsorge: Hintergründe, Quellen, beteiligte Instanzen sowie Erfahrungen und Strategien Betroffener.
Im Fokus der nationalsozialistischen Wohlfahrtspflege stand die Fürsorge für die »Volksgemeinschaft«. Hilfsbedürftige, die sich unerwünscht verhielten, wurden von den Fürsorgebehörden als »gemeinschaftsfremd« ausgeschlossen. Bei der Zuschreibung einer vorgeblich erblich bedingten Abweichung wie auch bei einer Ausgrenzung als »asozial« und »arbeitsscheu« spielten durch Geschlechterbilder geprägte Erwartungen eine zentrale Rolle. Die ausgegrenzten Hilfsbedürftigen wurden mit vielfältigen eugenischen Zwangsmaßnahmen überzogen. Fürsorge, Wohlfahrtsanstalten, Jugend-, Arbeits- und Gesundheitsämter arbeiteten bei der Entrechtung der Betroffenen eng mit der Polizei und Justiz zusammen. Stigmatisierte Personen wurden von der Polizei zu Tausenden in »Vorbeugungshaft« genommen und in Konzentrationslager eingewiesen.
In diesem Heft werden Fürsorge und Zwangserziehungssysteme im Netzwerk nationalsozialistischer Verfolgungsinstanzen – auch über die Grenzen des Reichsgebiets hinaus – in den Blick genommen. Zudem wird nach konkreten wie auch transgenerationalen Auswirkungen auf die Betroffenen gefragt und deren Gegenwehr beispielhaft thematisiert.
Mit Beiträgen von: Piotr Chruścielski, Oliver Gaida, Daniel Haberlah, Rense Havinga, Thomas Irmer, Sarah Könecke, Nikolas Lelle, Reimer Möller, Jan Neubauer, Stefan Romey, Laurens Schlicht und Frauke Steinhäuser.
Nikolas Lelle
»Arbeit macht frei« Zum Zusammenhang nationalsozialistischer Fremdund Selbstbilder mit Praktiken der Verfolgung und Vernichtung
Nach der NS-Arbeitsauffassung sind für die unterschiedenen Menschengruppen unterschiedliche Arbeitsformen angemessen. Für einige soll die Monotonie der Fabrikarbeit gerade richtig sein, andere seien dazu berufen, zu befehlen und zu führen, wieder andere müssten im Steinbruch überhaupt erst lernen, was Arbeit sei. Für alle sollte der Satz »Arbeit macht frei« gelten – aber jeweils unterschiedlich. Die »Volksgenossen « sollte Arbeit frei machen, die KZ-Häftlinge dagegen machte Arbeit nicht frei. Für sie brachte sie Zwang, Unfreiheit und Tod.
Der Aufsatz analysiert die Konstruktion von Fremd- und Selbstbildern im Nationalsozialismus und setzt sie in Beziehung zu den Praktiken der Verfolgung und Vernichtung in Lagern: »Erziehung durch Arbeit«, Zwangsarbeit und »Vernichtung durch Arbeit«. Ein besonderer Fokus liegt hierbei auf den »vergessenen« oder verleugneten Opfern, die als »Asoziale« oder »Arbeitsscheue« verfolgt wurden. Die Erinnerung an diese Verbrechen steht weiterhin noch am Anfang.
Jan Neubauer
Armes Augsburg. Nationalsozialistische Sozialfotografie zwischen Fürsorge und Verfolgung
Im Mittelpunkt des Aufsatzes steht eine im April 1938 entstandene Dokumentation der Stadt Augsburg zur Wohnsituation armer Menschen. Mitarbeitende der städtischen Lichtbildstelle hatten die »Elendswohnungen« in der Stadt aufgesucht und Aufnahmen der Bewohnerinnen und Bewohner angefertigt. Zu den Fotografien verfasste die städtische Familienfürsorge erläuternde Texte. 37 auf diese Weise entstandene Fotoberichte ließ die Stadtverwaltung zu einer scheinbar für die Verbesserung der Wohnsituation werbenden Sozialdokumentation zusammenstellen.
Der Aufsatz analysiert die Dokumentation vor dem Hintergrund ihres Entstehungszusammenhangs als nationalsozialistische Sozialfotografie. Er zeigt, wie die kommunalen Akteure »pragmatisch« mit Konzepten zur Lösung der sozialen Frage umgingen, um von NS-Stellen Mittel für den Wohnungsbau zu erhalten, dabei in der völkischen Wohlfahrtspraxis den Boden der NS-Ideologie aber nicht verließen. Der Blick hinter die »Schauseite« der Dokumentation, die das Wohnungselend zur Mittelbeschaffung instrumentalisierte, zeigt, wie eng ein Leben in Armut in der Realität des »Dritten Reiches « auch in Augsburg mit Verfolgung durch den NS-Staat verbunden war.
Thomas Irmer
»Die Stadt Berlin kann mit gutem Recht auf den Geist und die Führung ihrer Heime hinweisen.« NS-spezifische Verfolgungsmaßnahmen in städtischen und privaten Berliner Fürsorgeerziehungsheimen
Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der Entwicklung von städtischen und privaten Berliner Fürsorgeheimen während der NS-Zeit stehen im Mittelpunkt des Aufsatzes. Eingangs wird die Entwicklung der Berliner Heimfürsorge in der Weimarer Republik skizziert, die auf städtischen und zu einem weitaus größeren Teil privaten, christlichen Heimen aufgebaut war. Diese Struktur tasteten die Nationalsozialisten grundsätzlich nicht an. Dennoch unterschieden sie zwischen »minderwertigen« und »erbgesunden« Kindern und Jugendlichen. Letztere sollten im Vordergrund der »Volkspflege« stehen, für alle anderen waren gegebenenfalls Repressionsmaßnahmen wie Zwangssterilisierungen und Maßnahmen der NS-»Euthanasie« vorgesehen. Eingegangen wird auch auf die Rolle sexualisierter Gewalt. Hier besteht noch erheblicher Forschungsbedarf.
Reimer Möller
Die Überstellung von Arbeitshausgefangenen aus der Landesarbeitsanstalt Glückstadt in das Konzentrationslager Neuengamme
Vorgestellt wird die 1874 eröffnete »Provinzial-Korrektionsanstalt für die Provinz Schleswig-Holstein« in Glückstadt an der Elbe, 1925 umbenannt in »Landesarbeitsanstalt«. Die Anstalt hatte Frauen und Männer aufzunehmen, die von ordentlichen Gerichten nach wiederholten Bestrafungen vor allem wegen »Bettelei« oder »Landstreicherei « zu »korrektioneller Nachhaft« verurteilt worden waren. Korrektionsanstalten hatten den erzieherischen Auftrag, die Untergebrachten strikten Verhaltensregeln und einem straff reglementierten Tagesablauf zu unterwerfen sowie zur Leistung eines festgesetzten Arbeitspensums anzuhalten. Bis 1935 haben 38 694 Gefangene die Anstalt durchlaufen.
Von Beginn an wurden langgediente ehemalige Soldaten als besonders geeignet angesehen, die Einrichtung zu führen und das erzieherische Konzept umzusetzen. Als exemplarische Belege werden die Berufsbiografien des Direktors Joachim Hampe (1923-1944) und einiger Wachtmeister angeführt.
In der NS-Zeit wurde die eine Arbeitshausunterbringung betreffende Gesetzgebung nur geringfügig geändert, allerdings mit weitreichenden Konsequenzen. Die Begrenzung der maximalen Haftdauer in Arbeitshäusern auf zwei Jahre entfiel, seit 1934 konnte Arbeitshaushaft andauern, bis sich der »er zieherische Erfolg« zeigte. Wenn dieser ausblieb, bedeutete dies lebenslange Haft. Schon in der Zeit der Weimarer Republik war die Zahl der gerichtlichen Verurteilungen zu Arbeitshaushaft stark zurückgegangen. Diese Entwicklung setzte sich in der NS-Zeit fort. Im NS-Staat hatte die Kriminalpolizei die Befugnis erhalten, zur »vorbeugenden Verbrechensbekämpfung« Einweisungen in Konzentrationslager direkt zu verfügen, sodass Gerichtsverfahren zur Verhängung von Arbeitshaushaft nicht mehr erforderlich waren. Ausbleibende neue Einweisungen sowie Entlassungen ließen die Zahl der Gefangenen in den Arbeitshäusern weiter zurückgehen, zugleich stieg das Durchschnittsalter der Gefangenen stark an.
Überführungen von Arbeitshausgefangenen in Konzentrationslager waren verhältnismäßig selten: Drei Glückstädter Gefangene sind im April 1938 im Zuge der Aktion »Arbeitsscheu Reich« und ein Gefangener in der zu dieser Kampagne gehörenden »Juniaktion« der Kriminalpolizei im selben Jahr in die Konzentrationslager Buchenwald bzw. Sachsenhausen überführt worden. Am 14. Oktober 1935 wurden 35 Arbeitshausgefangene auf Veranlassung der Kriminalpolizeileitstelle Hamburg in das Konzentrationslager Neuengamme verlegt.
Piotr Chruścielski
»Asozial« als Haftkategorie im Konzentrationslager Stutthof. Eine Annäherung an Ort, Menschen und Begriffe
Die Forschung zur Geschichte des KZ Stutthof, eines außerhalb der Grenzen des »Altreichs« betriebenen Lagers, weist in Deutschland eine ganze Reihe von Lücken auf. So wird »Stutthof« allgemein mit jüdischen Opfern bzw. mit der Verfolgung der polnischen Bevölkerung assoziiert. Die Zusammensetzung der Häftlinge war in diesem Lager jedoch komplexer. Wie in den anderen Konzentrationslagern waren dort politische Häftlinge, »Erziehungshäftlinge«, Zeugen Jehovas, Wehrmachtsoldaten, »Sippenhäftlinge«, Homosexuelle, als »Berufsverbrecher« und als »asozial« Kategorisierte interniert. Der Aufsatz rückt die als »asozial« bzw. »arbeitsscheu« kategorisierten Häftlinge in den Mittelpunkt. An Fallbeispielen werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede innerhalb dieser Häftlingsgruppe im KZ Stutthof erörtert. Dabei wird auf die Forschung zu dieser Haftkategorie im KZ Buchenwald und im KZ Mauthausen rekurriert, um die Praktiken in Stutthof zu kontextualisieren. Gefragt wird insbesondere danach, seit wann als »asozial« Verfolgte in Stutthof eingewiesen wurden, welcher Nationalität sie angehörten, woher sie kamen, wie hoch ihre Zahl war und in welcher Beziehung die Kategorien »Erziehung«, »politisch«, »asozial« bzw. »arbeitsscheu« und »kriminell« zueinander standen. Aufgegriffen werden auch gruppenspezifische Aspekte der Internierung der als »asozial« Kategorisierten wie Lagerhierarchien und Einberufungen zum Militär.
Rense Havinga
Researching prisoners labelled ›aso‹ in concentration camps in the Netherlands
Up until 2021 there was no book, chapter or article about the persecution of people labelled as ›asozial‹ or ›anti-social‹ in the Netherlands during the German occupation, and there was no broad awareness that this group had ever existed. The article discusses the first research project into this group of prisoners in concentration camps in the Netherlands, which was conducted from 2019 to 2021 by the Freedom Museum. They identified and transcribed as many personal cards and persons on transport lists labelled ›aso‹ as possible, creating a database of the persecuted that could be used for further analysis. They further enriched this data with personal information from other archives, evaluated the quantity of collected data and conducted qualitative case studies.
This research revealed that approximately 2,620 people were labelled ›aso‹ in a concentration camp in the Netherlands. It also showed that most prisoners labelled ›aso‹ were probably not targeted for eugenic reasons or because of their socio-economic status, but were instead sent to a concentration camp after being suspected of a petty crime. However, a group of approximately 400 prisoners from Brabant and Limburg were arrested on the orders of a Dutch police president who embraced National Socialism. He started a series of raids which appear to have been modelled on the ›preventative arrests‹ in Germany and targeted people for their socio-economic status or marginalized identity.
Although some groundwork has now been laid, many questions still remain regarding the decision-making process that led to the use of the term ›aso‹ in the Netherlands during the occupation, as well as regarding the postwar experiences of the prisoners. This research is merely the first chapter in a larger story that has remained almost entirely untold for more than seventy years.
Laurens Schlicht
Wissen – Kontrollieren –Aussondern. Zur Funktion der Weiblichen Kriminalpolizei in Jugendkonzentrationslagern (»Jugendschutzlagern«)
Der Aufsatz fragt nach der Funktion und dem Selbstverständnis der Beamtinnen der Weiblichen Kriminalpolizei (WKP) in Jugendkonzentrationslagern (damals »Jugendschutzlager«), die in den Jahren 1940 und 1942 als polizeiliche Lager errichtet worden waren. Dabei ordnet er die Tätigkeit der WKP in die Geschichte der Nutzung humanwissenschaftlichen Wissens zur Kontrolle und Klassifizierung der Bevölkerung ein. Es wird argumentiert, dass die Jugendkonzentrationslager Ausdruck der Verbindung von humanwissenschaftlichem Kontrollwissen und uneingeschränkter Macht der Exekutivorgane waren.
Anhand von Dokumenten und Briefen aus den Nachlässen der WKPBeamtinnen Berta Rathsam und Irene Bleymehl wird untersucht, welche Perspektiven diese Beamtinnen und ihre Korrespondentinnen auf die Jugendkonzentrationslager hatten. Wie in anderen Bereichen der Polizei blieb das nationalsozialistische Unrecht auch im Fall der Jugendkonzentrationslager nach 1945 unkommentiert und ohne juristische Konsequenzen für die Verantwortlichen.
Die Jugendkonzentrationslager, so wird gezeigt, verbanden ein epistemisches Projekt – die Generierung von Wissen über die Bevölkerung –, ein Projekt der rücksichtslosen Bevölkerungskontrolle und ein Projekt der Etablierung weiblicher Berufsarbeit in der Polizei. Der Aufsatz fragt nach der spezifischen Rolle der Polizistinnen in diesem dreifachen Projekt.
Oliver Gaida
Bittbrief, Beschwerde, Flucht. Behauptungsstrategien gegenüber der Zwangsfürsorge
Der Aufsatz stellt das Handeln der Betroffenen von Zwangsfürsorge in den Mittelpunkt. Ihre Behauptungsstrategien gegenüber der Fürsorge werden durch die Zuschreibungen in den überlieferten Akten vielfach verdeckt: Die Fürsorger:innen erklärten die Insass:innen der nationalsozialistischen Fürsorgeanstalten zu passiven Objekten, häufig unter dem Vorwurf, »arbeitsscheu« und »asozial« zu sein. Der Aufsatz zeigt, wie die Betroffenen als Subjekte wieder sichtbar gemacht werden können. Hierzu werden an Beispielen drei Formen von Behauptungsversuchen behandelt: Am Bittbrief lässt sich erfassen, wie die Betroffenen die Zwangsfürsorge wahrnahmen und wie sie ihre Vorstellungen vortrugen, um ihre Ziele zu erreichen. Die Beschwerde war für die Betroffenen ein konfrontatives Mittel der Auseinandersetzung; sie mussten mit starken Reaktionen der Zwangsfürsorge rechnen. Die Flucht brachte nicht nur hohe Risiken für die Betroffenen mit sich, sie stellte auch die Ordnung der Heime und Anstalten infrage. Die Widerspiegelung dieser Behauptungsversuche in Akten der Fürsorge ermöglicht es, sowohl die Handlungsmacht (Agency) der Betroffenen näher zu bestimmen als auch das System der Zwangsfürsorge besser zu verstehen.
Frauke Steinhäuser
»Die herzlichsten Grüße aus der goldenen Freiheit«. Ein gemeinschaftlicher Selbstbehauptungsversuch von als »asozial« verfolgten Frauen im Nationalsozialismus
Die Universitäts-Nervenklinik in Frankfurt am Main wies im Nationalsozialismus zahlreiche Fürsorgeempfänger:innen, die als Prostituierte arbeiteten oder unter dem Verdacht der Prostitution standen, in die damalige Landesheilanstalt Hadamar bei Gießen in Hessen ein. Die Diagnose lautete fast immer »Psychopathie«. Dabei handelte es sich um eine Chiffre, mit der Ärzt:innen moralische und sozialrassistische Beurteilungen normabweichenden Verhaltens von Frauen in medizinische »Diagnosen« umwandelten und die Betroffenen auf diese Weise psychiatrisierten. Die in das geschlossene »Psychopathinnenheim« der Landesheilanstalt Hadamar eingelieferten Frauen sollten dort durch Arbeit diszipliniert und »gebessert« werden, ihr Alltag bestand jedoch überwiegend aus der Ausbeutung ihrer Arbeitskraft. Fast immer sorgte die Anstalt zudem auf dringende »Empfehlung« der einweisenden Instanz für die Zwangssterilisation der oftmals zuvor entmündigten Betroffenen.
Sozialrassistisch und wegen ihrer normabweichenden Sexualität als deviant ausgegrenzte Frauen sowie Personen, die als Frauen betrachtet wurden, ohne sich selbst so zu definieren, waren im NS-Staat, der sie als »Gemeinschaftsfremde« vernichten wollte, jedoch nicht nur Objekte von Repressionen. Sie versuchten auf unterschiedliche Weise, handelnde Subjekte zu bleiben und sich gegen die permanente Überwachung, Abwertung und Drangsalierung durch Anstaltsaufseher:innen und -ärzt:innen zu behaupten. So haben in die Landesheilanstalt Hadamar zwangseingewiesene Frauen immer wieder kleinere »Notgemeinschaften« gebildet, um sich gegenseitig zu unterstützen und zu helfen. Eine dieser Gruppen steht im Zentrum des Aufsatzes.
Anhand einer Kollektivbiografie mehrerer als Frauen definierter Personen, die sich aus heutiger Sicht als queer bezeichnen lassen, nimmt der Aufsatz in den Blick, auf welche Weise sich als »asozial« Verfolgte nicht nur allein, sondern auch gemeinsam gegen Gewalt- und Disziplinierungsmaßnahmen zu behaupten versuchten, und zeigt, dass es sich dabei um eine Form kollektiver Agency handelt.
Oliver Gaida
Zwischen »Gentleman-Einbrecher« und »Berufsverbrecher«. Leben und Verfolgung von Manfred Bastubbe
Als »Berufsverbrecher« im Nationalsozialismus verfolgte Menschen sind kaum in biografischen Studien zur nationalsozialistischen Verfolgung vertreten. Auch sind fast keine eigenen Darstellungen ihrer Leben überliefert. Lange Zeit waren sie nicht einmal als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt. Zu diesen Ausgegrenzten zählt Manfred Bastubbe (1910-1976), dessen Geschichte sich von vielen bekannten Biografien KZ-Überlebender unterscheidet. Über ihn liegen neben den Akten der Verfolger auch eigene Erinnerungen vor, 1956 veröffentlicht in einem Buch und in einer Artikelserie in einer Zeitschrift. Sie richteten sich an ein Publikum der Nachkriegszeit, das an Geschichten aus kriminellen Milieus interessiert war. Ausgehend von diesen Überlieferungen rekonstruiert der Aufsatz die Geschichte Manfred Bastubbes und beschäftigt sich mit der Frage, inwieweit es möglich ist, adäquat über ihn zu erzählen. Der Bogen spannt sich dabei von einer romantisierten Großstadtkriminalität der 1920er-Jahre über die Einweisung in ein Konzentrationslager 1937 und jahrelange KZ-Haft, aus der Manfred Bastubbe zweimal floh, bis zu seinem Leben unter falscher Identität nach 1945 und erneuter Strafverfolgung.
Daniel Haberlah
Entschädigungsakten als Quelle zur Verfolgung »Asozialer« im Nationalsozialismus
Als »Asoziale« oder als »Berufsverbrecher« Verfolgte waren in der Bundesrepublik Deutschland von der Wiedergutmachung ausgeschlossen. Viele Betroffene stellten dennoch Anträge auf Wiedergutmachung nach dem seit 1953 geltenden Bundesentschädigungsgesetz. Die im Rahmen der daraufhin durchgeführten Entschädigungsverfahren entstandenen Akten stellen eine bisher kaum beachtete Quelle zur Forschung über die als »Asoziale« oder als »Berufsverbrecher« im Nationalsozialismus Verfolgten dar.
Der Aufsatz stellt Entschädigungsakten auf Grundlage der Untersuchung von mehr als 80 Verfahren von in Braunschweig im Nationalsozialismus als »Asoziale« und als »Berufsverbrecher« Verfolgten vor und erörtert die Möglichkeiten und Grenzen der Erkenntnisgewinnung aus diesem Quellentyp. Entschädigungsakten sind eine von den individuellen Erfahrungen der Verfolgten geprägte Quelle, deren Inhalt maßgeblich durch die Auskunftsbereitschaft der Antragstellenden und den Umfang der Ermittlungen der Entschädigungsbehörde bedingt ist. Obwohl die als »Asoziale« Verfolgten in den untersuchten Verfahren nicht als NS-Verfolgte anerkannt wurden, bieten die Entschädigungsakten Zugänge zur Opferperspektive, die ohne diese Quelle häufig nicht möglich sind. Sie enthalten zudem eine Parallelüberlieferung von Dokumenten aus der Zeit des Nationalsozialismus und der unmittelbaren Nachkriegszeit und ermöglichen so weiterführende personenbezogene Recherchen. Quellenkritisch zu beachten ist, dass die Akten erst nach 1945 und zudem im festgelegten Rahmen der Entschädigungsverfahren entstanden sind. Die Antragstellenden mussten bei ihren Angaben berücksichtigen, dass die Entschädigungsbehörde ihren Antrag ablehnen würde, wenn sie zu der Auffassung kam, sie seien als »Asoziale« verfolgt worden.
Die untersuchten Akten zeigen, dass die Entschädigungsbehörde über Ermessensspielräume bei ihren Entscheidungen über die Anträge dieser von der Entschädigung ausgeschlossenen Verfolgten verfügte. In einzelnen Fällen machte die Behörde den Antragstellenden dennoch Vergleichsangebote. Die Verfolgten erlebten damit in den Entschädigungsverfahren erneut Willkür, nachdem sie vor 1945 bereits einer vielfach willkürlichen NS-Verfolgung ausgesetzt waren. Die untersuchten Entschädigungsakten belegen zugleich, dass nach 1945 in der Entschädigungspraxis eine Kontinuität der Ausgrenzung bestand. Sie traf Menschen, die davon ausgingen, dass ihnen eine Entschädigung zustand, auch wenn das Bundesentschädigungsgesetz sie davon ausschloss.
Sarah Könecke
»Ihr Ansehen soll nicht beschmutzt werden«. Erinnerungsstrukturen in Familien von als »asozial« verfolgten Frauen
Der Aufsatz geht der Frage nach, welche Auswirkungen die Verfolgung von Frauen, die während des Nationalsozialismus als »asozial« stigmatisiert und kriminalisiert wurden, auf die Erinnerungsstrukturen und den familialen Dialog ihrer Angehörigen hat. Diese sind in ihrer Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte zum einen mit geschlechtsspezifischen wie sozial abwertenden Formen der nationalsozialistischen Verfolgung konfrontiert. Zum anderen wurden die verfolgten Familienmitglieder auch nach 1945 stigmatisiert und haben fehlende Anerkennung sowie eine Unterrepräsentation bis hin zur Unsichtbarkeit im erinnerungskulturellen Feld erfahren. Am Beispiel der biografietheoretischen Fallrekonstruktion einer Familie wird gezeigt, dass der familiale Dialog ebenso wie die Deutungsmuster der Angehörigen durch anhaltende Tabuisierung, Dethematisierung weiblicher Verfolgungserfahrungen und intergenerational fortwirkende soziale Scham strukturiert sind.