Alliierte Prozesse und NS-Verbrechen

Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland, Band 19
Herausgegeben von: Edition Temmen
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Beschreibung

Aus dem Inhalt:

Wolfgang Form: Die Ahndung von Kriegs- und NS-Verbrechen in den westlichen Besatzungszonen Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg

Dimitrij Astaschkin: Die Strafverfolgung von NS-Verbrechen in der ehemaligen Sowjetunion

Alfons Adam: Das NS-Lagersystem vor den Außerordentlichen Volks-gerichten der Tschechoslowakei (1945 –1947)

Sabina Ferhadbegovic´: »Vor dem Gericht des Volkes«. Das Lager Jasenovac in den ersten jugoslawischen Kriegsverbrecherprozessen

Christian Pöpken: Im Schatten der Royal Warrant Courts. Verfolgung von NS-Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor Military Government Courts und Control Commission Courts der britischen Zone (1946 –1949)

Georg Hoffmann: Flyer Cases. Britische und amerikanische Militär-gerichtsverfahren zur Ahndung von Verbrechen an alliierten Flugzeug-besatzungen (1945 –1948)

Alyn Beßmann, Peter Pirker und Lisa Rettl: KZ-Häftlinge als Akteure der Strafverfolgung von NS-Tätern. Britische Justizverfahren zu Verbrechen im KZ Neuengamme und im Außenlager Loibl/Ljubelj des KZ Mauthausen

Susan Hogervorst: KZ-Überlebende als Zeuginnen. Der Fall Strippel und die Rolle der Frauen von Vught und Ravensbrück in der Strafverfolgung (1945 –1980)

Johannes Schwartz: Britische und französische Prozesse gegen SS-Aufseherinnen aus dem Frauen-KZ Ravensbrück im Vergleich

Marcel Brüntrup: Rühen Baby Case. Der Prozess um das »Ausländer-kinderpflegeheim« des Volkswagenwerks

Bernhard Gelderblom und Janna Lölke: Die Vollstreckung von Todes-urteilen in der britischen Zone am Beispiel der Hinrichtungsstätten in Hameln und Wolfenbüttel

Margaretha Franziska Vordermayer: Britische Offiziere als Verteidiger vor alliierten Militärgerichten

Reimer Möller: »Ununterbrochen in innerer Abwehrstellung«. Deutsche Verteidiger in den britischen Hauptprozessen zu den KZ Neuengamme und Ravensbrück sowie im Verfahren zu Tesch & Stabenow (1946 –1947)

Reimer Möller: Betreuungsarbeit »in aller Stille«: Die Zentrale Rechts-schutzstelle in Bonn und der »Ausschuss der Hamburger Werl-Verteidiger«

Mirjam Schnorr: »Es ist in meiner Gegenwart niemals jemand erschossen worden.« Der Prozess gegen Franz Murer vor dem Landesgericht für Strafsachen Graz 1963

Wolfgang Form: Die Ahndung von Kriegs- und NS-Verbrechen in den westlichen Besatzungszonen Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg

Frankreich, Großbritannien und die USA haben ab 1945 viele Hundert NS-Täter wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor Gericht gestellt. Jedes Land etablierte ein eigenes Ahndungsmodell mit spezifischem Fokus. Die Strafverfolgung seitens der USA beinhaltete zwei große Prozesskomplexe: die Nürnberger Nachfolge- Prozesse und den sogenannten Dachau-Trial- Komplex. Vor französischen Gerichten in Deutschland wurde ausschließlich auf Basis des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 verhandelt. In der britischen Besatzungszone urteilten zumeist Militärgerichte auf der Grundlage des Royal Warrant vom Juni 1945. Daneben wurden – wenn auch in geringerer Zahl – NS-Täter ebenfalls nach dem Kontrollratsgesetz Nr. 10 vor besonderen Militärverwaltungsgerichten angeklagt. Trotz der unterschiedlichen Jurisdiktion gab es viele Gemeinsamkeiten. Ein Schwerpunkt war die Strafverfolgung von NS-Gräueltaten in Konzentrationslagern. Für die USA und Großbritannien waren zudem Verfahren wegen Verbrechen an Kriegsgefangenen von großer Bedeutung. Vertreter der politischen, militärischen und wirtschaftlichen NS-Elite standen in Nürnberg vor Gericht. Vergleichbare Verfahren gab es, mit Ausnahme des französischen Röchling-Prozesses in Rastatt, bei den beiden anderen Alliierten nicht. Die USA und Großbritannien beendeten ihre Strafverfolgung 1949, während französische Gerichte noch bis 1953 verhandelten. Insgesamt sind über 2000 Urteile gegen mehr als 5350 Einzelpersonen gefällt worden – darunter mehr als 250 Frauen.

Dmitrij Astaschkin: Die Strafverfolgung von NS-Verbrechen in der ehemaligen Sowjetunion

Der Aufsatz zeigt die Entwicklung der sowjetischen Prozesse gegen NS-Kriegsverbrecher und Kollaborateure von der Stalinzeit bis zum Ende der 1980er-Jahre und stellt sie in einen historischen Kontext. Die ersten Prozesse fanden bereits während des Zweiten Weltkrieges statt. Nach dem Ende des Krieges erfuhren die Organisation und die öffentliche Darstellung der Prozesse aus politischen und juristischen Gründen erhebliche Änderungen. Als wichtige Phasen können unterschieden werden: die öffentlichen Prozesse von 1945 bis 1946 mit Todesurteilen; die öffentlichen Prozesse im Jahr 1947 nach der Abschaffung der Todesstrafe sowie die Geheimprozesse von 1948 bis 1949. 1955 erfolgte die »Heimkehr« der Kriegsgefangenen und die Amnestie der wegen Kollaboration Verurteilten. Ab Ende 1950 führten die sowjetischen Behörden wieder öffentliche Prozesse gegen Kollaborateure durch und forderten zugleich – im Kontext des Kalten Krieges – die strafrechtliche Verfolgung von NSTätern in der Bundesrepublik Deutschland, die Teil der dortigen politischen und militärischen Eliten waren. Die Aufarbeitung der justiziellen Ahndung von NS-Verbrechen auf dem Gebiet der Sowjetunion bleibt weiter ein wichtiges Desiderat der Forschung.

Alfons Adam: Das NS-Lagersystem vor den Außerordentlichen Volksgerichten der Tschechoslowakei (1945–1947)

Seit 1942 bereitete die tschechoslowakische Exilregierung in London eine juristische Aufarbeitung der Besatzung und der NS-Verbrechen vor. Nach Kriegsende richtete das Prager Justizministerium im westlichen Teil der Tschechoslowakei 24 Außerordentliche Volksgerichte (Mimořádné lidové soudy) ein. Die Retributionsgerichtsbarkeit im slowakischen Landesteil verlief gesondert. Die Aufgabe der Gerichte auf dem Gebiet der heutigen Tschechischen Republik war im Rahmen des 1. Retributionsgesetzes die Bestrafung der »NS-Verbrecher, Verräter sowie deren Helfer«. Der Gesetzgeber versah diese Außerordentlichen Volksgerichte mit einem starken Laienelement – so sollten politisch Verfolgte als Laienrichter bevorzugt rekrutiert werden – und die Gerichtsverfahren hatten einen standgerichtlichen Charakter. Der Wiederaufbau der tschechoslowakischen Verwaltung erwies sich in den ersten Nachkriegsmonaten in den Grenzgebieten als besonders schwierig und die Gerichte konnten ihre Arbeit erst mit großer Verzögerung aufnehmen. Sowohl die tschechoslowakische Exilregierung als auch das im Mai 1945 wiedererrichtete Prager Justizministerium waren über die deutsche Besatzungspraxis auf Protektoratsgebiet, insbesondere über die NSHerrschaft im Sudetengau, unzureichend informiert. Der vorliegende Aufsatz untersucht, wie die juristische Aufarbeitung der unterschiedlichen NS-Lagerkomplexe im westlichen Teil der Tschechoslowakei unter diesen Bedingungen erfolgte.

Sabina Ferhadbegović: »Vor dem Gericht des Volkes«: Das Lager Jasenovac in den ersten jugoslawischen Kriegsverbrecherprozessen

Bereits während des Zweiten Weltkrieges begann die 1943 gegründete jugoslawische Staatliche Kommission zur Feststellung von Verbrechen der Besatzer und ihrer Helfer Unterlagen zu sammeln, um die Kriegsverbrechen der NSBesatzer und der mit ihnen zusammenarbeitenden einheimischen Ustascha- und anderer Militäreinheiten zu belegen. Nach der Befreiung des Lagers Jasenovac nahmen die Kommissionsmitglieder die ersten Zeugenaussagen auf, fotografierten das zerstörte Lager und dokumentierten die Leichen der Ermordeten, die Massengräber und die Aussagen der Überlebenden. Ihre Akten legten die Grundlage für die ersten jugoslawischen Kriegsverbrecherprozesse, bei denen es um weit mehr ging, als Recht zu sprechen oder mit ehemaligen und zukünftigen Gegnern abzurechnen. Die Prozesse sollten die kommunistische Machtübernahme legitimieren und ein moralisch und ideologisch begründetes Gegenmodell zur Besatzungsherrschaft und zum System des monarchischen Jugoslawiens begründen. Im Aufsatz wird analysiert, welche Bedeutung die Kommission bei der Ahndung von Kriegsverbrechen hatte und auf welche Weise die Öffentlichkeit in den Prozessen über das Konzentrationslager Jasenovac informiert wurde. Dabei wird argumentiert, dass im Jugoslawien der Nachkriegszeit die Gerichte zu Orten der Geschichtsschreibung wurden und die Grundlagen der öffentlichen Wahrnehmung von Jasenovac legten, die bis heute die Erinnerung an diesen Tötungsort prägen.

Christian Pöpken: Im Schatten der Royal Warrant Courts. Verfolgung von NS-Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor Military Government Courts und Control Commission Courts der britischen Zone (1946–1949)

Verglichen mit den vor Royal Warrant Courts geführten Kriegsverbrecherprozessen ist ein anderer Zweig der britischen Strafverfolgung von NS-Verbrechen weitgehend unbeachtet geblieben: die in der britischen Zone auf Basis von Kontrollratsgesetz Nr. 10 (KRG 10) zunächst vor Military Government Courts (MGC) und seit dem 1. Januar 1947 vor Control Commission Courts (CCC) betriebene Ahndung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit an Zivilisten. Die britische Militärregierung bezifferte die Zahl der vor diesen Gerichten wegen NS-Unrechts verhandelten Verfahren bis Mitte 1947 auf vier (mit 36 Angeklagten) und die Zahl der bis Anfang 1949 hinzugekommenen auf 50 (mit 110 Angeklagten). Gelegentlich kamen dabei neben dem erwähnten Tatbestand auch »Kriegsverbrechen« (KRG 10) und Strafnormen aus dem Strafgesetzbuch (StGB) zur Anwendung. Diese Rechtsprechung der MGC und CCC lässt sich in zwei Phasen gliedern: Zunächst fanden Parent Cases statt, bei denen NS-Gewalttaten mit deutschen oder staatenlosen zivilen Opfern verhandelt wurden. Sie sollten der deutschen Rechtspflege als Musterprozesse für entsprechende KRG-10-Verfahren dienen. Ab Mitte 1947 führten die Briten dann eine größere Zahl von Verfahren wegen Menschlichkeitsverbrechen an nicht britischen Alliierten durch, oft osteuropäischen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern. Im Juli 1949 ging zuletzt auch die Zuständigkeit für Fälle mit alliierten Opfern auf deutsche Gerichte über, denen hierfür als Rechtsgrundlage aber nur das StGB zur Verfügung stand. Der vorliegende Beitrag beleuchtet die rechtspolitischen Erwägungen der Briten zum KRG 10, die Besonderheiten der Rechtsprechung der MGC und CCC sowie die Frage, warum dieselbe im Schatten der Royal Warrant Courts stand und bis heute ein Desiderat der Juristischen Zeitgeschichte darstellt.

Georg Hoffmann: Flyer Cases. Britische und amerikanische Militärgerichtsverfahren zur Ahndung von Verbrechen an alliierten Flugzeugbesatzungen (1945–1948)

Unmittelbar nach Kriegsende begannen in Deutschland wie auch in Österreich britische und amerikanische Militärgerichtsprozesse zu den sogenannten Flyer Cases. Diese trugen einem nationalsozialistischen Gewaltphänomen Rechnung, das sich ab 1944 im Kontext des alliierten Bombenkrieges und basierend auf Gewaltfreigaben und -Steuerungen des NSRegimes entwickelt hatte: die sogenannte Fliegerlynchjustiz an britischen und amerikanischen Flugzeugbesatzungen, die über dem Deutschen Reich abgeschossen worden waren. Bis 1948 wurden über 300 derartige Militärgerichtsverfahren angestrengt, die sich in mehreren Spannungsfeldern bewegten. Vor dem Hintergrund einer gesellschaftlich breit verankerten Opferwahrnehmung des Bombenkrieges konnten diese Verfahren kein tieferes Bewusstsein über die Dimension und Tragweite der Verbrechen erzeugen. Die öffentliche Diskussion dazu brach nach 1948 abrupt ab. So geriet einer der ersten nationalsozialistischen Verbrechenskomplexe, der durch die alliierte Militärgerichtsbarkeit aufgegriffen worden war, weitgehend in Vergessenheit und harrt bis heute einer umfassenden wissenschaftlichen Erschließung.

Alyn Beßmann, Peter Pirker und Lisa Rettl: KZ-Häftlinge als Akteure der Strafverfolgung von NS-Tätern. Ein Vergleich britischer Justizverfahren zu Verbrechen im KZ Neuengamme und im Außenlager Loibl/Ljubelj des KZ Mauthausen

Sowohl im Norden als auch ganz im Süden des besiegten Großdeutschen Reiches fanden britische Militärjustizverfahren nach dem Royal Warrant gegen vormaliges KZ-Personal statt. Der vorliegende Beitrag vergleicht die Rolle, die ehemalige Häftlinge in der juristischen Ahndung der Verbrechen im KZ Neuengamme und des Mauthausen-Außenlagers Loibl/Ljubelj an der österreichisch-slowenischen Grenze spielten. In beiden Lagern unternahmen Häftlinge in den letzten Tagen der NS-Herrschaft Schritte, um eine juristische Ahndung der Verbrechen zu gewährleisten und unterstützten aktiv die nachfolgenden britischen Ermittlungen und Prozesse. Trotz aller quantitativen wie qualitativen Unterschiede zwischen den beiden Lagern als auch zwischen den nachfolgenden Prozessen – die britischen Ermittlungen zum KZ Neuengamme und seinen Außenlagern mündeten zwischen 1946 und 1948 in insgesamt 33 Prozesse mit 118 Angeklagten, jene zum Außenlager Loibl in nur zwei Prozesse im Jahr 1947 mit insgesamt 14 Angeklagten – bietet sich ein Vergleich an, um die britische Justizpolitik in Deutschland und Österreich in einer Gegenüberstellung zu analysieren. Der Fokus des vorliegenden Aufsatzes liegt dabei auf den Aktivitäten, die ehemalige Häftlinge entwickelten, um die Bestrafung ihrer Peiniger in Gang zu setzen: Welche Strategien wählten sie, um ihr Interesse an Strafverfolgung zu artikulieren und zur Geltung zu bringen? Welche Rollen konnten sie im Rahmen rechtsstaatlicher Ermittlungs- und Rechtsprechungsverfahren einnehmen? Welche Faktoren bestimmten ihre Handlungsspielräume und das Ausmaß ihrer Handlungsmacht? Und nicht zuletzt: Welche Übereinstimmungen und Differenzen lassen sich zwischen den Aktivitäten in Hamburg und Kärnten ausmachen? Diesen Fragen wird in einer vergleichend und chronologisch angelegten Darstellung nachgegangen.

Susan Hogervorst: KZ-Überlebende als Zeuginnen. Der Fall Strippel und die Rolle der Frauen von Vught und Ravensbrück bei der Strafverfolgung (1945–1980)

Eines der berüchtigtsten Ereignisse in der Geschichte der Konzentrationslager in den Niederlanden ist das sogenannte Bunkerdrama im Konzentrationslager Vught (auch KZ Herzogenbusch genannt) im Januar 1944. 74 Frauen wurden dabei eine Nacht lang in eine Einzelzelle gesperrt, zehn von ihnen starben. Ende der 1970er-Jahre reichte Non Verstegen eine Klage gegen Arnold Strippel ein, den einzigen zu dieser Zeit noch lebenden Hauptverantwortlichen für das Bunkerdrama. Verstegen, eine Überlebende sowohl des Bunkerdramas in Vught als auch des Konzentrationslagers Ravensbrück, hatte im Zweiten Weltkrieg dem kommunistischen Widerstand angehört. Im vorliegenden Aufsatz wird anhand des Falls Strippel ein in der umfangreichen Geschichtsschreibung zur juristischen Aufarbeitung der NS-Verbrechen bislang wenig beachteter Aspekt analysiert: die Rolle von Opferorganisationen bei der juristischen Verfolgung der Täter. Wie versuchten ehemalige KZ-Häftlinge auf die strafrechtliche Verfolgung von KZ-Personal Einfluss zu nehmen und welche Auswirkungen hatte die juristische Aufarbeitung der NS-Vergangenheit auf die Überlebenden? Dabei liegt der Fokus vor allem auf der Perspektive der ehemaligen niederländischen Häftlinge der Konzentrationslager Vught und Ravensbrück. Durch eine solche Perspektive wird die grenzüberschreitende Bedeutung der Aburteilung des KZ-Personals sichtbar. Diese spiegelt sich nicht nur in der internationalen Berichterstattung über die Strafprozesse. Wie sich zeigt, wurden die Prozesse auch von KZ-Überlebenden aus verschiedenen Ländern aufmerksam verfolgt, und daraus entstanden unterschiedliche Initiativen der Verfolgtenverbände. Es erscheint daher sinnvoll, die Rezeption der juristischen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit einer international vergleichenden Analyse zu unterziehen.

Johannes Schwartz: Britische und französische Prozesse gegen SS-Aufseherinnen aus dem Frauen-KZ Ravensbrück im Vergleich

Zwischen September 1945 und September 1951 saßen in britischen und französischen KZ-Prozessen mehr als 55 Aufseherinnen auf der Anklagebank, die im Frauen-KZ Ravensbrück ausgebildet worden waren. Nicht nur die Verhandlungsgegenstände, sondern auch die Rechtsgrundlagen und die Zusammensetzung der Belastungszeuginnen dieser Prozesse unterschieden sich erheblich. So einigten sich die Westalliierten darauf, die »Hauptkriegsverbrecher « des Frauen-KZ Ravensbrück vor ein britisches Militärgericht zu stellen. Am Beispiel des Verfahrens gegen die Hauptangeklagte im sechsten britischen Ravensbrück- Prozess, Emma Zimmer, und gegen die Hauptangeklagte in zwei Verfahren vor Gerichten in Rastatt, Erna Mühlhaus, wird in diesem Aufsatz aus mikrohistorischer Perspektive nach den Möglichkeiten von KZÜberlebenden gefragt, ihre spezifischen Erinnerungen an ihre KZ-Haft zur Sprache zu bringen und die Urteilsfindung zu beeinflussen. In dem britischen Verfahren wurde den Überlebenden sehr viel mehr Freiraum gelassen, ihre Erinnerungen an die Gewalttaten und an die Beteiligung Emma Zimmers an der Mordaktion »14 f 13« vor Gericht darzustellen. Der Judge Advocate nutzte kleine Details in ihren Zeugenaussagen, um der Angeklagten eine eigene Motivation bei den Verbrechen nachzuweisen. Zimmer wurde zum Tode verurteilt. Nachdem Erna Mühlhaus in erster Instanz wegen Gewalttaten, in sieben Fällen mit Todesfolge, zum Tode verurteilt worden war, wollte der vorsitzende Richter des Obergerichts im Revisionsverfahren von den zwei anwesenden Belastungszeuginnen hingegen sehr genau wissen, wie die Angeklagte konkret zum Tod der Opfer beigetragen habe. Am Beispiel einer Vernehmung zeigt der Aufsatz, wie der Richter Ungenauigkeiten und Unsicherheiten aufdeckte und die Zeugin erheblich unter Druck setzte. Das Obergericht wandelte das Todesurteil in eine lebenslange Freiheitsstrafe um. Diese unterschiedlichen Strafrechtsdiskurse sind jedoch keineswegs repräsentativ für die Gesamtheit der britischen und französischen Prozesse gegen KZ-Aufseherinnen, die im Einzelnen von den Überlebenden sehr unterschiedlich erfahren und bewertet wurden. Ein mikrohistorischer Ansatz macht es insofern möglich, jenseits der politisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen die konkreten Erfahrungen von KZ-Überlebenden vor alliierten Militärgerichten akteursbezogen zu erkunden.

Marcel Brüntrup: Rühen Baby Case. Der Prozess um das »Ausländerkinderpflegeheim « des Volkswagenwerks

In dem als Rühen Baby Case bezeichneten britischen Kriegsverbrecherprozess, der vom 20. Mai bis zum 24. Juni 1946 in Helmstedt stattfand, wurde der Tod von mehr als 300 Kindern osteuropäischer Zwangsarbeiterinnen behandelt, die in den letzten beiden Kriegsjahren im sogenannten »Ausländerkinderpflegeheim« des Volkswagenwerks untergebracht waren. Das Heim befand sich zunächst in der »Stadt des KdF-Wagens bei Fallersleben« (heute Wolfsburg) und wurde später in den nahegelegenen Ort Rühen verlegt. Den insgesamt zehn Angeklagten wurde vorgeworfen, an der Tötung dieser Kinder, überwiegend Neugeborene, durch »wilful neglect« (vorsätzliche Vernachlässigung) beteiligt gewesen zu sein. Neben der Darstellung der juristischen Grundlagen dieses Prozesses wird anhand des Verhandlungsprotokolls des Rühen Baby Case die Geschichte des »Ausländerkinderpflegeheims« nachgezeichnet. Das Heim des Volkswagenwerks steht dabei exemplarisch für eine Vielzahl ähnlicher zur Unterbringung osteuropäischer Kinder vorgesehener Einrichtungen, die im Spannungsfeld von nationalsozialistischer Ideologie, Politik und Kriegswirtschaft entstanden. Ein besonderes Augenmerk wird auf die Urteilsfindung gelegt, wobei sowohl die Verteidigungsstrategie des Hauptangeklagten als auch die Argumentation der Anklage in den wichtigsten Punkten nachvollzogen werden.

Bernhard Gelderblom und Janna Lölke: Die Vollstreckung von Todesurteilen in der britischen Zone am Beispiel der Hinrichtungsstätten in Hameln und Wolfenbüttel

Zwischen 1945 und 1949 verhängte die britische Militärregierung in ihrer Zone 584 Todesurteile, von denen 397 vollstreckt wurden. Wer waren die Angeklagten? Für welche Verbrechen und Vergehen wurden sie zum Tode verurteilt? Wie wurden die Hinrichtungen ausgeführt und wie ging man mit den Toten um? Der vorliegende Beitrag nimmt die Hinrichtungspraxis in der britischen Zone anhand zweier Hinrichtungsstätten genauer in den Blick. Das Zuchthaus Hameln war der zentrale Ort für die Hinrichtung von Kriegsverbrecherinnen und -verbrechern in der britischen Zone. Die strafrechtliche Verfolgung der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen war ein grundlegendes Anliegen der Alliierten. Vollstreckt wurden die Hinrichtungen in Hameln nach britischer Tradition durch den Strang und von einem britischen Henker. Weniger bekannt ist, dass die Militärregierung bei Verstößen gegen das Besatzungsrecht gleichfalls rigoros vorging – insbesondere wenn sie die Sicherheit der eigenen Streitkräfte gefährdet sah, sowie bei Gewaltverbrechen. Im Strafgefängnis Wolfenbüttel wurden Todesurteile gegen deutsche Zivilisten durch Enthaupten vollstreckt. Ein bemerkenswert großer Teil der in der britischen Zone verhängten Todesurteile richtete sich zudem gegen alliierte Staatsangehörige, dabei handelte es sich um ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter sowie KZ-Häftlinge aus Osteuropa. Diese wurden zunächst durch militärische Erschießungskommandos u. a. in Wolfenbüttel hingerichtet, ab Juni 1947 dann im Zuchthaus Hameln durch Erhängen.

Margaretha Franziska Vordermayer: Britische Offiziere als Verteidiger vor alliierten Militärgerichten

In der britischen Besatzungszone wurden zwischen Herbst 1945 und Dezember 1949 insgesamt 329 Militärgerichtsprozesse gegen 964 Angeklagte durchgeführt. In diesen Militärgerichtsprozessen traten neben deutschen Anwälten auch britische Militärangehörige als Verteidiger auf – insgesamt 46 britische Offiziere nahmen ein Mandat als Pflichtverteidiger in diesen Gerichtsprozessen wahr. Das Aufeinandertreffen von zumeist deutschen Angeklagten auf der einen und von britischen Verteidigern, Anklägern und Richtern auf der anderen Seite schuf dabei ein spezifisches Spannungsverhältnis. Im Zentrum des Beitrags steht die vergessene Rolle der britischen Offiziere, die mutmaßliche deutsche Kriegsverbrecher als Pflichtverteidiger vor diesen Militärgerichten vertraten und das Bild ihrer Mandanten in der Öffentlichkeit maßgeblich prägten. Die Prozesse werden sowohl nach Angeklagten wie verhandelten Verbrechenskomplexen, Urteilen und Strafmaß differenziert. Dabei wird das Rollenverständnis der britischen Offiziere in ihrem militärischen Umfeld und während ihrer Tätigkeit als Verteidiger vor Gericht beleuchtet. Die Möglichkeiten einer effektiven Verteidigung wurde vor allem von zwei Faktoren bestimmt: zum einen durch die Verfahrensregeln der Militärgerichtsbarkeit, zum anderen durch den Versuch der britischen Besatzungsmacht, durch die Demonstration von Recht und Gerechtigkeit gegenüber dem ehemaligen Feind Vertrauen für den (Wieder-)Aufbau einer demokratisch-rechtsstaatlichen Ordnung zu schaffen. Deshalb handelten die britischen Offiziere nicht nur als integraler Bestandteil eines militärischen Apparats, sondern als Verteidiger und professionelle Juristen hatten sie zusätzlich die Aufgabe zu erfüllen, für ein demokratisches Rechtsideal einzutreten.

Reimer Möller: »Ununterbrochen in innerer Abwehrstellung «. Deutsche Verteidiger in den britischen Hauptprozessen zu den KZ Neuengamme und Ravensbrück sowie im Verfahren zu Tesch & Stabenow (1946–1947)

Als die britische Militärjustiz ab 1946 Verfahren zur strafrechtlichen Ahndung von NS-Verbrechen einleitete, sah sie sich mit dem Problem konfrontiert, dass nicht genügend politisch unbelastete deutsche Rechtsanwälte als Verteidiger zur Verfügung standen. Die Auswahl der Verteidigeranwälte wurde deshalb unter pragmatischen Gesichtspunkten vollzogen, ohne den Abschluss ihrer Entnazifizierungsverfahren abzuwarten. Wie niedrig die Anforderungen an politische Integrität waren, zeigen exemplarisch die präsentierten zwölf Verteidiger-Biogramme. Acht von ihnen waren NSDAP-Mitglieder gewesen, nur einer hatte sich von jeder Mitgliedschaft in NS-Organisationen freigehalten. Fachlich hatte niemand von ihnen seinen Schwerpunkt bisher im Strafrecht gehabt. Vielmehr hatten sich alle im Handels- und Steuerrecht spezialisiert und waren für gewerbliche Unternehmen oder Interessenverbände tätig gewesen oder hatten gewerbliche Berufe ausgeübt. In den beiden großen international beachteten Verfahren gegen SS-Personal oder Funktionshäftlinge der Konzentrationslager Neuengamme und Ravensbrück wirkten die deutschen Verteidiger indessen loyal mit, wofür ihnen der stellvertretende Leiter der britischen Militärjustizbehörde ausdrücklich dankte. Umso mehr muss es irritieren, dass dieselben Rechtsanwälte in späteren Verfahren die britische Justiz frontal angriffen und den rechtsstaatlichen Charakter der Gerichte und die politische Berechtigung der Verfahren bestritten.

Reimer Möller: Betreuungsarbeit »in aller Stille«: Die Zentrale Rechtsschutzstelle in Bonn und der »Ausschuss der Hamburger Werl-Verteidiger«

1949 wurde im Bundesjustizministerium die Zentrale Rechtsschutzstelle eingerichtet, die deutsche Staatsangehörige unterstützen sollte, die im Ausland wegen NS-Kriegsverbrechen verurteilt worden waren. Diese Fürsorge sollte auch den Verurteilten zuteilwerden, die ihre Haftstrafen in alliierten Gefängnissen in Deutschland verbüßten. Die Bundesbehörde wurde nicht direkt tätig, sondern vermittelte Rechtsanwälte, die möglichst auch schon als Verteidiger ihrer Mandanten in den britischen Strafverfahren aufgetreten waren. Deren Kosten wurden, da den Inhaftierten durchweg Armenrecht zugebilligt wurde, aus Bundesmitteln gezahlt. Auf die Gesuche der Anwälte um Revision der Urteile, Haftverkürzung oder Begnadigung reagierten die britischen Besatzungsbehörden nicht wie erwünscht. Daraufhin griffen die Rechtsanwälte zu politischen Mitteln und initiierten Pressekampagnen, stellten Kontakt zu einflussreichen britischen Kritikern der Militärjustiz ihres Landes her und stimmten mit ihnen Initiativen ab, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Diese Kampagne gipfelte in einer Rede Lord Hankeys im britischen Oberhaus und der »Werl«-Erklärung von 37 Hamburger Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten im September 1951. Die britische Militärjustiz wurde dabei beschuldigt, internationale Standards zu verletzen, die in zivilisierten Staaten üblich seien. Verurteilte Kriegsverbrecherinnen und -verbrecher kamen nach ihrer Haftentlassung in den Genuss von Leistungen nach dem Heimkehrergesetz, und Angehörigen von Gestapo und SS stand auch Haftentschädigung nach dem Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz zu. Voraussetzung war, dass die ZRS den Betreffenden »Unbedenklichkeitsbescheinigungen « ausstellte, was in breiter Form geschah.

Mirjam Schnorr: »Es ist in meiner Gegenwart niemals jemand erschossen worden«. Der Prozess gegen Franz Murer vor dem Landesgericht für Strafsachen Graz 1963

Franz Murer, 1912 in Österreich geboren und ehemaliger »Junker« der Ordensburg Krössinsee, bekleidete während des Zweiten Weltkrieges im Gebietskommissariat Wilna-Stadt, heute Litauen, das Amt des Stabsleiters und Zuständigen für »Judenangelegenheiten«. Er war einer der Hauptverantwortlichen für die Massenvernichtung des jüdischen Volkes in den von deutschen Truppen besetzten Gebieten der Sowjetunion. 1948 verurteilte ihn ein sowjetisches Militärtribunal zu 25 Jahren Haft. Seine vorzeitige Entlassung im Zuge der Heimkehrertransporte aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft schuf die Möglichkeit einer juristischen Ahndung seiner Verbrechen in Österreich. Das Landesgericht für Strafsachen Graz als Geschworenengericht sprach Murer jedoch im Jahr 1963 in einem vielfach als Skandal bezeichneten Urteil frei. Der Beitrag geht auf Basis einer intensiven Untersuchung der Verfahrensakten im Fall Murer den Fragen nach, wie Murer in den Blickpunkt der Justiz geriet, welche Verteidigungsund Rechtsfertigungsstrategien er im Laufe seines Verfahrens entwickelte, in welcher Diskrepanz diese zu den ihm vorgeworfenen Taten standen, wie Opfer- und Täterzeugen auftraten und wie sich der Ablauf des Verfahrens gestaltete sowie welche Folgen daraus resultierten. Untersucht wird auch, zu welchem Zeitpunkt des Verfahrens und auf Basis welcher Beweg268 Summarys gründe die Grundlage für einen Skandal gelegt wurde. Der Prozess gegen Murer steht beispielhaft nicht nur für die Abneigung der österreichischen Justiz in der Nachkriegszeit, sich mit vergangenen NS-Verbrechen zu konfrontieren, sondern auch für das langlebige Verdrängen und die Weigerung breiter Bevölkerungsschichten des Landes, Verantwortung für begangenes Unrecht zu übernehmen.

Details

Artikelnummer
481
ISBN
978-3-8378-4059-9
Jahr
2020
Sprachen
Deutsch