Im Leben von Kindern und Jugendlichen im Nationalsozialismus spiegelte sich die Gesellschaftsordnung, die radikal rassistisch organisiert war und sich durch das Wechselverhältnis zwischen Integration und Exklusion auszeichnete: Für den Nachwuchs der propagierten »Volksgemeinschaft« gab es Integrationsangebote - die Kinder derer, die nicht dazugehörten, vor allem Juden sowie Sinti und Roma, wurden ausgegrenzt, verfolgt und am Ende ermordet.
In diesem ersten Heft der »Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung« wird untersucht, wie Ausgrenzung und Verfolgung, Praktiken der Vergemeinschaftung und individuelle Handlungsweisen das Leben von Kindern und Jugendlichen im Nationalsozialismus geprägt haben. Wie wirkten sich Integration und Repression in Schule und Hitlerjugend aus? Welche Kinder und Jugendlichen wurden mit welchen Mitteln verfolgt? Wie sahen die Überlebensbedingungen verfolgter Minderjähriger in Lagern und anderen Haftstätten aus, etwa im KZ Bergen-Belsen? Welche Spezifika, auch erfahrungsgeschichtlich, hatte die Verfolgung von Kindern und Jugendlichen gegenüber der von Erwachsenen?
Unter den Bedingungen der NS-Herrschaft in Europa hatten Kinder sehr unterschiedliche individuelle Zukünfte. Ihre möglichen Lebenswege differierten entsprechend den Aushandlungen der zeitspezifischen Vorstellungen und Manifestationen vor allem von Recht, Religion und Raum. Zur Lebenswirklichkeit von Kindern gehörten daher so extrem unterschiedliche Ausprägungen wie der kurzeitige Aufstieg und die kleine Karriere in der Hitlerjugend-»Volksgemeinschaft«, der gelebte Eigensinn in einer Gruppe der Edelweißpiraten und die tödliche Katastrophe in der Praxis der »Euthanasie« und im Holocaust. Soweit sie überlebten, prägten ihre Erfahrungen ihr weiteres Leben auch nach dem Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.
Der Aufsatz geht der Frage nach, wie es den Nationalsozialisten in ihrer und mit ihrer Jugendorganisation, der Hitlerjugend (HJ), gelang, die übergroße Mehrheit der deutschen Kinder und Jugendlichen im Alter von 10 bis 18 Jahren an sich zu binden, genauer: sie zu einem gefolgschaftstreuen und dienstbereiten NS-Kollektiv zu formen. Verfolgt wird diese Frage in vier Schritten: im Blick auf die Institution und den Machtapparat »HJ«, im Blick auf deren Führungsaufbau und im Blick auf die Jugendpraxis in der HJ. Führungsaufbau und Praxis werden schließlich hinsichtlich ihrer psychosozialen Mechanismen und ihres psychoemotionalen Wirkungsgefüges inspiziert. Dabei zeigen sich milieu- und altersspezifische Differenzen der Erfahrung und des Erlebens, soweit Autobiografien und Erinnerungserzählungen darüber Aufschluss geben.
Die sozialen Beziehungen zwischen Geschwisterkindern wurden bislang weder in den Forschungen zu »Kriegskindern « des Zweiten Weltkrieges noch in den Forschungen zu »Kinderhäftlingen « in nationalsozialistischen Konzentrationslagern berücksichtigt. Der Aufsatz setzt hier an und untersucht die Bedeutung, die Geschwister im Kriegsalltag bzw. im Lageralltag füreinander hatten. Auf der Grundlage von Feldpostkorrespondenz, Tagebucheinträgen, schriftlichen Erinnerungen, Zeitzeugeninterviews und autobiografischen Texten wird danach gefragt, welche Rolle Kinder innerhalb der Familie in der Extremsituation »Krieg« bzw. »KZ« einnahmen und welchen Beitrag sie zum Überleben ihrer Geschwister leisteten. Durch eine getrennte Betrachtung von Geschwistern an der »Heimatfront « und von Geschwistern in Konzentrationslagern werden die übergreifenden Kontinuitäten in Geschwisterbeziehungen deutlich, die sich vor allem in der gegenseitigen Verantwortungsübernahme, der offeneren Kommunikation und der Verarbeitung von Kriegs- bzw. KZ-Erfahrungen zeigen.
In fast jedem nationalsozialistischen Konzentrationslager, in dem sich weibliche Häftlinge befanden, gab es auch schwangere Frauen. Da nach der NS-Ideologie die Fortpflanzung von »rassisch Minderwertigen« oder »politischen Volksfeinden« unerwünscht war, bedeutete Schwangerschaft oder Niederkunft für die betroffenen Frauen und ihre Kinder in der Regel den Tod. Aufgrund der spezifischen Lagergeschichte des KZ Bergen-Belsen und seiner Funktionszuschreibung als Auffang- und Sterbelager in der Endphase war dort der Anteil schwangerer Frauen unter den weiblichen Häftlingen vergleichsweise hoch. Die Lebensbedingungen und Überlebenschancen der Frauen und ihrer Säuglinge hingen im KZ Bergen-Belsen maßgeblich vom Zeitpunkt der Deportation bzw. der Geburt, vom Lagerteil, aber auch von der Solidarität der Mithäftlinge und dem Verhalten von Kapos und SSMannschaft ab. Nur wenige der schätzungsweise 200 Kinder, die zwischen August 1943 und April 1945 im »Austauschlager « und im Frauenlager auf die Welt kamen, überlebten.
Die in Tagebüchern, schriftlichen Erinnerungsberichten und lebensgeschichtlichen Interviews beschriebenen Kinderspiele im Konzentrationslager Bergen-Belsen umfassen ein breites Spektrum. Sie reichen von individuellen Spielen mit Spielzeug, das Häftlinge mit ihrem Gepäck ins Lager hatten mitbringen können, bis zu gemeinschaftlichen Spielen, bei denen es etwa um die Imitation des Verhaltens von Erwachsenen ging. Die Spiele waren nur bedingt ein Ausdruck sozialer Kontinuität. Vor allem waren sie ein für die inhaftierten Kinder spezifischer Prozess der Anpassung an die Welt des Konzentrationslagers. Der große Stellenwert, dem Spielen unter diesen Bedingungen zukam, zeigt sich daran, dass das spielerische Handeln der Kinder auch noch in der Phase des Massensterbens eine Fortsetzung fand. Die Spiele der Kinder, die Sterben, Tod und Leichen zum Gegenstand hatten, waren jedoch nicht empathielos, sondern lassen sich als eine Gefühlsabspaltung verstehen, die es den Kindern ermöglichte, unerträgliche traumatische Erlebnisse ausblenden zu können. Nahezu alle Quellen, die über Kinderspiele im KZ Bergen-Belsen berichten, beziehen sich auf das Spielen jüdischer Kinderhäftlinge. Über Spiele von Kindern aus anderen Haftgruppen wie den Sinti und Roma, die erst einige Wochen vor der Befreiung nach Bergen- Belsen gelangten, ist nichts bekannt.
»Kinderhäftlinge« sind ein zentrales Thema in den Erinnerungen Überlebender des Frauen-Konzentrationslagers Ravensbrück. Kein anderes Sujet kann die Abgründe des Univers Concentrationaire so auf den Punkt bringen wie dieses. Im Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück waren einer Schätzung zufolge etwa 2000 Minderjährige im Alter von 2 bis 16 Jahren inhaftiert. Der Aufsatz geht der Frage nach, ob und wie sich die Erinnerungen ehemaliger »Kinderhäftlinge « von denen älterer Überlebender unterscheiden. Gefragt wird nach den Motiven, Bildern und Konventionen, die die Berichte der Älteren über die Kinder im Lager strukturieren. Welche Funktion haben die Berichte, welche Botschaften transportieren sie und wie wird die Asymmetrie des Verhältnisses von Kindern und Erwachsenen im Lager dargestellt? Diskutiert werden u. a. die Erinnerungen an die »Lagermütter« sowie Berichte über die überwiegend polnischen Lehrerinnen und die verschiedenen Gruppen der Schülerinnen in Ravensbrück. Thematisiert werden auch die Berichte über die »Zigeunerkinder« im Lager. Als Quellengrundlage dienen veröffentlichte und unveröffentlichte Berichte Überlebender des Frauen-Konzentrationslagers.
Als zukünftige Generation der verfolgten Gruppen wurden auch Kinder und Jugendliche gezielt Opfer der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik. Die größte Zahl von ihnen wurde in den Vernichtungslagern ermordet. Die Existenz von Minderjährigen in nationalsozialistischen Konzentrationslagern war daher eine Ausnahme. Vor diesem Hintergrund widmet sich der Aufsatz dem im Herbst 1944 im »Männerlager« des Frauen- Konzentrationslagers Ravensbrück in einer Barackenhälfte des Blocks 5 eingerichteten Bereich, in dem minderjährige männliche Häftlinge von Erwachsenen separiert untergebracht waren. Die meisten Jungen in diesem »Kinderblock« waren Sinti und Roma sowie Juden. Auf der Basis lebensgeschichtlicher Berichte von jüdischen Überlebenden wird ein Einblick in das erinnerte Erleben ehemaliger »Kinderhäftlinge « im Block 5 gegeben. Er zeigt, dass dieser für Kinder vorgesehene Bereich keine schützende Distanz zur Brutalität der Lagerrealität schuf. Auch die Gemeinschaft der Kinder war von der allgegenwärtigen Gewalt des Lagers durchzogen. Zugleich beschreiben die Kinderüberlebenden inter- und intragenerationale Solidaritätsstrukturen. In dieser Widersprüchlichkeit nimmt der Beitrag das erinnerte Erleben im Block 5 mit besonderer Aufmerksamkeit für die Kindergruppe und für Unterstützungsleistungen unter Gleichaltrigen in den Blick.
In der nationalsozialistischen Gesellschaft waren junge Menschen nicht allein den Einflüssen der NS-Organisationen wie der Hitlerjugend (HJ) mit dem Bund Deutscher Mädel (BDM) sowie der »gleichgeschalteten« Schulen ausgesetzt. Prägungen fanden auch in den Familien, in den Freundeskreisen, im Stadtteil, in den Ausbildungsbetrieben und in den Vereinen statt. Sie waren komplex und häufig widersprüchlich. Der Aufsatz beschreibt für die Zeit von 1933 bis Kriegsende mehrere teils bereits vor 1933 bestehende Hamburger Gemeinschaften, die die NS-Ideologie und/oder die repressiven Maßnahmen der NS-Diktatur ablehnten. Sie legten Wert auf Eigenständigkeit und Selbstbestimmung und versuchten, diesen Anspruch auch unter der NS-Diktatur zu behaupten. Teils schufen sie sich in der Diktatur entsprechende Freiräume oder nutzten Räume, die eine gewisse Eigenständigkeit zuließen. Kinder und Jugendliche erfuhren in diesen Gemeinschaften Prägungen, die in ihrem weiteren Leben ein kritisch- distanziertes Verhalten innerhalb der NS-Gesellschaft bewirken und zu Konflikten, z. B. mit der HJ, führen konnten. Die Übergänge zwischen »Nonkonformität«, »Verweigerung«, »Protest« und »Widerstand« waren dabei fließend. Vorgestellt werden Gruppen des organisierten politischen Widerstands bis 1936, Aktivitäten in der Tradition der Arbeiterbewegung bis 1939, konfessionell und bündisch geprägte Jugendliche, Swing-Jugendliche, die Helmuth-Hübener- Gruppe und die Gruppe um Karl Hellbach und Ernst Hampel.